Integration: Ankommen im Glarnerland

Die Morgendämmerung schiebt sich langsam über die Alpengipfel, als Selav Arab ins Freie tritt. Die dunklen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden, in eng geschnittenen Jeans und himbeerroten Turnschuhen geht sie zielstrebig durch die beleuchtete Strasse in Richtung Bahnhof. In der Bäckerei, die am Weg liegt, schaltet gerade jemand das Licht an, die Turmuhr zeigt kurz nach sechs. Von einer Hausfassade hängt eine grosse Schweizer Fahne still in der kühlen Morgenluft. Schwanden, ein Dorf mit knapp 3000 Einwohnern im Glarner Hinterland.

Selav Arab ist nicht von hier. In Syrien geboren, flüchtete sie mit ihrer Familie aus Damaskus erst in den Irak, dann weiter in die Türkei, und kam vor zwei Jahren in die Schweiz. Empfangszentrum Kreuzlingen, dann Transfer ins Glarnerland. Seither lebt sie hier in den Schweizer Bergen, die sie zuvor nur aus indischen Filmen kannte. Gemeinsam mit ihrer Mutter, den vier Geschwistern und dem Vater, der bereits einige Jahre zuvor in die Schweiz gekommen war.

Selav Arabs Ziel an diesem Morgen ist der Dorfladen von Näfels, wo sie vor einem Jahr ein Praktikum und vor wenigen Wochen eine Lehre als Verkäuferin begonnen hat. Während der Zugfahrt erzählt sie von ihren ausgefüllten Wochen: An Arbeitstagen steht sie morgens um fünf Uhr auf und kommt abends gegen acht Uhr nach Hause. Am Dienstagabend besucht sie einen Deutschkurs, am Mittwoch hat sie Schule, lernt Mathematik, Englisch, Buchhaltung, Staatskunde. Das alles erzählt Arab mit einem Lächeln und in fast fliessendem Deutsch. Die Sprache falle ihr leicht, sagt sie, aber noch lieber würde sie Schweizerdeutsch sprechen. «Morn hani frii», sagt sie, klinge doch viel schöner als «Morgen habe ich frei».

Als Selav Arab in Näfels aus dem Zug steigt, ist es Tag geworden im Glarnerland. Unterwegs zum Geschäft nickt ihr eine Passantin freundlich zu. Hundert Meter weiter klopft sie an das Fenster einer Schreinerei, hinter der Glasscheibe winkt ein älterer Mann zurück. «Das ist Peter, ich muss ihm jeden Morgen Hallo sagen», sagt sie und lacht.

Der Dorfladen ist bereits hell erleuchtet, eine Mitarbeiterin ist dabei, die Gemüseregale abzudecken. «Guten Morgen, Vreni», grüsst Selav Arab, dann verschwindet sie in der Garderobe. Zwei Minuten später steht sie vor dem Kühlregal, auf dem T-Shirt das Logo des Geschäfts, und kontolliert die Ablaufdaten der Milchprodukte. Die zweite Lehrtochter kommt aus dem Lagerraum, bringt in Harassen weitere Lebensmittel mit. Joghurt, Milch, Käse. Schweigend und konzentriert räumen die beiden jungen Frauen die Regale ein. «Mir gefällt diese Ruhe am Morgen», sagt Arab. Dann kommen die ersten Kunden grüssend durch die Tür. Handwerker auf dem Weg zur Baustelle kaufen ihr Frühstück, eine ältere Frau macht den Wocheneinkauf. Näfels erwacht.

Kurz nach neun betritt Geschäftsführer Bruno Weber den Laden. Ein grossgewachsener Mann mit kurz geschnittenen Haaren, verspiegelter Brille und grauem Polohemd. Freundlich begrüsst er seine Mitarbeiterinnen und macht einen Rundgang, bevor er für die Bestellungen in seinem Büro verschwindet. Aufgewachsen im Zürcher Oberland, übernahm Weber vor sechs Jahren die Leitung des Näfelser Dorf- ladens und siedelte in den Kanton Glarus über. Weber bezeichnet sich selbst als stolzen Patrioten. «Politisch bin ich klar rechts zuhause», sagt er. Dass er einer jungen Frau aus Syrien eine Arbeitsstelle verschafft, steht für ihn in keinem Widerspruch dazu.

Anfang 2016 erhielt Bruno Weber Post vom Kanton. Absender: Koordinationsstelle Integration Flüchtlinge. Betreff: Kantonales Berufseinführungsprogramm. Der Kanton suchte nach Betrieben, in denen junge Geflüchtete ein einjähriges Praktikum absolvieren könnten, mit Aussicht auf eine anschliessende Berufslehre. Das erste Schreiben landete ungelesen im Papierkorb. Er habe es übersehen, sagt Weber. Als der Kanton ein paar Monate später nochmals nachhakte, wurde er hellhörig. Im Angebot des Kantons erkannte er seine eigenen Vorstellungen wieder, wie das Zusammenleben mit Geflüchteten gelingen kann. «Ich erwarte von Menschen mit Migrationshintergrund, dass sie sich unseren Verhältnissen anpassen. Ich erwarte aber auch von uns, dass wir den Menschen die Möglichkeit geben, an unserem Leben teilzunehmen.»

Weber bekundete der Behörde gegenüber sein Interesse, drei Wochen später bekam er die ersten Bewerbungsdossiers zugeschickt, darunter jenes von Selav Arab. Er lud die junge Frau zum Vorstellungsgespräch ein, bereits nach einer Viertelstunde war für ihn klar: Das passt. «Wir hatten den Eindruck, dass sie motiviert ist und Interesse an der Arbeit mitbringt. Ich wollte ihr eine Chance geben.» Webers einzige Sorge: Wie würden die Kunden reagieren?

Im Juli vor einem Jahr erschien Selav Arab zum ersten Arbeitstag ihres Praktikums, sie war damals gerade einmal neun Monate in der Schweiz. Für die junge Frau war es die erste Arbeitsstelle ihres Lebens, ihr Deutsch noch unsicher, die Nervosität gross. Auf einer Schiefertafel vor dem Laden stand: «Wir begrüssen unsere neue Praktikantin!» Die erste Zeit verbrachte Arab fast ausschliesslich im Lagerraum: «Ich war den ganzen Tag im Keller. Es dauerte zwei Wochen, bis ich mich traute, zum ersten Mal mit einer Kundin zu sprechen.»

Selav Arab war im Sommer 2016 eine von zwölf Asylsuchenden, die im Kanton Glarus im Rahmen des kantonalen Berufseinführungsprogramms ein Praktikum begannen. Ausgereift war die Idee zum Programm in der Hauptabteilung Soziales unter der Regie von Leiter Andreas Zehnder. «Wir hatten gesehen, dass es viele junge Menschen mit Bleiberecht gibt, die man integrieren muss. Dafür wollten wir etwas tun.» Der Kanton Glarus ist bürgerlich geprägt, im Regierungsrat sitzt kein linker Politiker, auch den Landrat dominieren die bürgerlichen Parteien. Zehnder sah darin kein Hindernis: «Das Programm kann verhindern, dass die Leute zur Sozialhilfe müssen, und ermöglicht im besten Fall ein selbständiges Leben. Dafür findet sich auch in einem bürgerlichen Kanton eine Mehrheit. Da denkt man im Kanton Glarus pragmatisch.» Es mag geholfen haben, dass das Programm den Kanton finanziell kaum belastet. Den grössten Teil der Kosten tragen die Arbeitgeber. Sie bezahlen den Praktikanten einen Monatslohn von mindestens 400 Franken und beteiligen sich zusätzlich mit 300 Franken monatlich am Schulunterricht, den die Praktikanten einen halben Tag pro Woche besuchen. «Es brauchte einiges Klinkenputzen», sagt Zehnder. Die Kantonsmitarbeiter stellten das Programm beim Gewerbeverband vor, schrieben zahlreiche E-Mails, fragten manche Arbeitgeber persönlich an. Bis schliesslich ausreichend Betriebe zusammen waren.

Im Dorfladen in Näfels ist es inzwischen kurz nach zehn Uhr. Die Mitarbeiterinnen stellen im Hinterraum einen kleinen Tisch neben den Warenlift und versammeln sich zur Znüni-Pause. Vreni, Moni und Selav. Die Frauen sprechen über eine Nachbarin, über das vergangene Wochenende, machen Witze. Als eine Kundin den Laden betritt, ist Selav Arab die Erste, die aufsteht und zur Kasse geht. Von ihrer anfänglichen Scheu ist ihr kaum noch etwas anzumerken, und auch die anfänglichen Befürchtungen von Geschäftsleiter Bruno Weber haben sich nicht bestätigt. Er sagt, dass die Kunden über alle politischen Lager hinweg die neue Mitarbeiterin schätzten. Bis auf eine ältere Frau, die von Anfang an dagegen gewesen sei, dass Arab hier arbeitet. Auch damit geht Weber pragmatisch um: «Wenn diese Dame zum Einkauf kommt, schauen wir einfach, dass jemand anders an der Kasse steht.»

Damals in Syrien, bevor der Krieg ausbrach, hatte Selav Arab noch ganz andere Vorstellungen von ihrer Zukunft. Ihr Vater verdiente sein Geld als Taxifahrer, ihre Mutter kümmerte sich um die Familie, und Arab träumte von einer Zukunft als Französischlehrerin. Dennoch sagt sie: «Für mich ist es gut hier. Mir gefällt die Arbeit, das Gespräch mit den Kunden, und dass ich mein Deutsch verbessern kann.» Arbeit und Schule füllen einen grossen Teil von Arabs Leben aus. Hat sie freie Zeit, trifft sie sich mit einer jungen Frau aus Syrien, die gleich alt ist wie sie und seit Kurzem ebenfalls im Kanton Glarus lebt. Oder sie streift mit ihrem Bruder auf der Suche nach Poke?mons durch das Glarnerland. Und oft zieht es sie nach Zürich, Basel oder nach Bern, wo eine Tante von ihr lebt, bei der sie kürzlich während ihrer Ferien eine ganze Woche verbrachte.

Das Pilotprojekt Berufseinführungsprogramm ist seit diesem Sommer abgeschlossen. Andreas Zehnder, der Leiter des Sozialamtes, ist zufrieden mit dem Erreichten: Er habe von allen Betrieben positive Rückmeldungen erhalten, von den zwölf Teilnehmenden hätten sechs eine Anschlusslösung gefunden, sagt Zehnder. Etwa in Form eines weiteren Praktikums oder einer Schnupperlehre. Für eine anschliessende Berufslehre hat es jedoch nur bei Selav Arab gereicht. «Wir hatten etwas unterschätzt, wie gross die Bildungsrückstände bei manchen der Teilnehmenden sind.» Seit dem Sommer läuft im Kanton Glarus die zweite Phase des Programms, der Unterrichtsanteil ist nun doppelt so gross wie im ersten Jahr. Ab 2018 hofft der Kanton zudem auf Unterstützung des Bundes. Dieser startet ab dem kommenden Jahr mit dem Projekt Integrationsvorlehre (siehe Box) und fordert damit die Kantone auf, einjährige Berufsausbildungen für anerkannte Flüchtlinge anzubieten. Dies mit dem Ziel, dass diese einen besseren Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten. Insgesamt 54 Millionen Franken will der Bund in den nächsten vier Jahren dafür zur Verfügung stellen. Ein Teil davon könnte auch ins Glarnerland fliessen.

Als das Praktikum von Selav Arab im vergangenen Frühling seinem Ende entgegenging, war es für Geschäftsführer Bruno Weber keine Frage: Wenn sie hier eine Lehre absolvieren will, dann noch so gerne. Arab wollte und begann direkt im Anschluss an das Praktikum die dreijährige Ausbildung zur Detailhandels-Fachangestellten. Sein Bauchgefühl aus dem Bewerbungsgespräch habe sich bestätigt, sagt Weber. Die Zusammenarbeit funktioniere ausgezeichnet. Es sei eine «klassische Win-win-Situation, wie man heute so schön sagt». Denn es sei auch für ihn nicht immer einfach, gute Lernende zu finden. «Dass Selav heute bei uns die Lehre macht und so gut Deutsch spricht, verdankt sie weder mir noch dem Programm des Kantons. Sondern alleine ihrem grossen Willen», lobt Weber.

Es ist bereits am Eindunkeln, als Selav Arabs Arbeitstag zu Ende geht. Sie schliesst den Laden, versorgt die Kasse und macht sich gemeinsam mit Vreni auf den Weg Richtung Bahnhof. Ihr neues Leben geht sie in kleinen Schritten an: Schweizerdeutsch lernen, in der Schule mithalten, die Lehre abschliessen. Und sie freut sich auf das kommende Wochenende. «Dann kann ich endlich wieder richtig ausschlafen.»