Wo Geld keinem gehört

Ephraim Bieri
Blumenkohl, Deo, zwei Packungen Windeln. Sarah Wüthrich ist auf Einkaufstour. Fr. 63.70 zeigt die Kasse an. Die 30-Jährige zieht ihre Bankkarte aus dem Portemonnaie und bezahlt. Geld verdient die Studentin zurzeit keines, doch das spielt keine Rolle: Andere bezahlen für sie.

Sarah Wüthrich lebt im Schloss Hubelgut, auf einem Anwesen aus dem 17. Jahrhundert bei Bolligen im Kanton Bern. Doch das Leben der ­heutigen Bewohnerinnen und ­Bewohner ist alles andere als feudal. Wo einst vornehme ­Berner Patrizierfamilien ihre Sommer­tage verbrachten, leben sieben Personen mit drei kleinen Kindern in finanzieller Egalität. Alle kennen sich unterschiedlich ­lange, haben unterschiedliche ­Bedürfnisse und verdienen unterschiedlich viel Geld. Aber was sie an Einkommen verdienen, gehört allen. Gemeinsame Ökonomie heisst das Modell, das sie seit knapp zwei Jahren leben.

Sarah Wüthrich und Raffael Wüthrich sind verheiratet, Christoph Trummer und Sarah Widmer seit vielen Jahren ein Paar – wie auch Jannik Böhm und Lena Feldmann. Philippe Wietlisbach ist der einzige Single. Und dann ist da noch Esther Greter, die ebenfalls im Schloss lebt, als neueste Bewohnerin aber bis jetzt nicht Teil der gemeinsamen Ökonomie ist.

Vorbild aus Deutschland

Die Idee zu dem Experiment hatten Lena Feldmann, Raffael Wüth­rich und Jannik Böhm. Sie besuchten vor knapp zehn Jahren im alternativen Kulturzentrum Reitschule in Bern einen Vortrag der Kommune Niederkaufungen aus Deutschland, eine der grössten und bekanntesten Gruppen in Europa, die in einer gemeinsamen Ökonomie leben. Als sie danach bei einem Bier sassen, entdeckten sie ihr gemeinsames Interesse an dem Modell. «Ich war neugierig herauszufinden, welche Bedeutung Geld für mich wirklich hat und was geschieht, wenn ich die Kontrolle über meine Finanzen aufgebe», sagt Feldmann.

Sie machten sich auf die Suche nach Freunden und Bekannten, die sich ein solches Modell vorstellen konnten. Vor vier Jahren zogen sie ins Schloss Hubelgut. Bis sie ihre Konten zusammen­legten, vergingen zwei Jahre. «Am Anfang waren die Ängste gross, bei allen von uns», sagt Feldmann. Technisch ist das Modell simpel: Alle Einkommen fliessen auf ein gemeinsames Konto, mit dem Guthaben begleicht die Gemeinschaft laufende Rechnungen: Krankenkassenprämien, Generalabonnemente der SBB, Telefon­gebühren, Yogastunden. Und auch die Bedürfnisse der drei kleinen Kinder, die im vergangenen Jahr die ­Gemeinschaft erweitert haben, werden über das Konto finanziert. Zudem besitzen alle eine eigene Bankkarte, mit der sie jederzeit Einkäufe tätigen und Geld beziehen können. Wer eine Ausgabe plant, die 400 Franken übersteigt, muss das zuvor an­melden. Quittungen, Abrechnungen und Budgets gibt es nicht – aber ein Sparkonto und eine goldene Regel: Bedürfnisse sind nicht verhandelbar. «Uns ist wichtig, dass niemand zurückstecken muss», sagt Lena Feldmann. Denn Asketen leben hier keine. Auch für ein Abend­essen im Restaurant, eine Reise nach Istanbul oder ein Wochenende im Wellnesshotel steht das Geld auf dem Konto zur Ver­fügung – wenn es reicht.

Sarah Wüthrich sitzt nach ihrem Einkauf in einem Café und erzählt von den Geldsorgen, die während vieler Jahre an ihr nagten. Von den kräftezehrenden Nebenjobs, mit denen sie ihr Studium finanzieren musste. «Zum ersten Mal in meinem ­Leben sind meine Existenz­ängste in den Hintergrund ­gerückt», sagt Wüthrich. Und das, obwohl sie seit einem halben Jahr Mutter einer kleinen Tochter ist und derzeit selber kein Geld verdient. «Dieses Füreinan­derdasein berührt mich tief.» Und sie freut sich schon auf die Zeit nach dem Studium, wenn auch sie finanziell für andere sorgen kann. Doch verpflichtet ist sie zu nichts. Jede und jeder kann jederzeit aus der Gemeinschaft austreten.

Synergien und Solidarität

Einmal im Monat treffen sich die Mitbewohnerinnen und -be­wohner zur Plenumssitzung im Rittersaal neben dem grossen ­Ka­chel­ofen. Hier besprechen sie grös­sere Ausgaben – etwa für ­einen Urlaub, Zahnarztbehandlungen oder einen neuen Computer – und den aktuellen Konto­stand. Durchschnittlich liegen zu Beginn des Monats rund 20 000 Franken auf dem Konto: so viel, wie zuvor keiner von ihnen je zur Verfügung hatte. Doch verteilt auf alle sieben und die drei Kinder ist es wenig. Rechnerisch lebt die Gemeinschaft an der Armutsgrenze. Wirklich arm fühlt sich aber niemand von ihnen. «Wir können viel Geld sparen, indem wir gemeinsam leben, Synergien nutzen, Kühlschrank, Auto und Konsumgüter teilen», sagt Lena Feldmann.

Philippe Wietlisbach ist einer der Grossverdiener unter den Bewohnern. Er arbeitet als Lehrer an einer Mittelschule in Biel. Zu Beginn der gemeinsamen Öko­nomie war er selber noch Student. Jetzt ­finanziert er mit seinem Einkommen die drei Kinder mit, die nicht seine eigenen sind, und subventioniert das Leben der Kleinverdiener in der Gruppe. Als er sich vor einigen Monaten einen eigenen Gleitschirm kaufen wollte, fehlte dafür das Geld. Jetzt spart die Gemeinschaft darauf, dass er den Schirm noch vor dem Frühling erwerben kann. «Das sind Momente, wo ich mich schon manchmal frage: Wäre es nicht einfacher, wenn ich einfach für mich schaue?

Doch es sind flüchtige Zweifel. Denn was Wietlisbach von der Gemeinschaft erhalte, sei wertvoller als unbeschränkte Konsummöglichkeiten. «Ich erlebe hier eine unglaubliche Solida­rität. Und die Sicherheit, dass andere für mich sorgen, wenn es bei mir einmal knapp wird.»

Eineinhalb Jahre sind vergangen, seit die Gemeinschaft ihre gemeinsame Ökonomie begonnen hat. Im Umfeld schütteln noch immer viele den Kopf, in manchen Familien sorgt die Lebensform für hitzige Diskussionen. Und auch die Bewohnerinnen und Bewohner sind immer wieder neu gefordert: Sarah Wüthrich fühlt sich in gewissen Momenten schuldig, weil sie finanziell nichts zur Gemeinschaft beiträgt. Lena Feldmann ärgert sich über Philippe Wietlisbachs Parkbussen. Und der nervt sich über die Haare im Abfluss.

Doch die befürchteten Grundsatzdiskussionen blieben aus, die Existenzängste schwinden. «Geld hat in meinem Leben noch nie eine so kleine Rolle gespielt wie heute», sagt Feldmann. «Aus dem Experiment ist Normalität ge­worden.» Nun möchte die ­Gemeinschaft weiterwachsen und ist auf der Suche nach einem grös­seren Zuhause in der Region Bern, das sie als Genossenschaft kaufen kann. Denn in einem Punkt sind sich alle einig: Ihr Modell hat Zukunft.