So ein Käse!

Es ist früher Morgen in den Freiburger Voralpen. Schwitzend kämpfen sich die drei Frauen bergaufwärts. Der steile Pfad führt vorbei an Kuhfladen und Weiden durchs garstige Motélon-Tal. „Ist es noch weit?“, fragt Wendy.

 

Normalerweise steht die Käsehändlerin Wendy Johnson bei Whole Foods Market in Albuquerque, im Südwesten der USA, hinter der Theke. In ihrer Freizeit betreibt sie selbst einen kleinen Bauernhof. Gemeinsam mit ihren Berufskolleginnen Izzy Creveling und Ann Campbell hat Wendy an einem Wettbewerb teilgenommen, den die Schweizer Gruyère-Produzenten ausgeschrieben hatten. Der Hauptpreis: eine Reise ins Greyerzerland.

 

Heute dürfen die drei Frauen selbst sehen, wo er herkommt, dieser Schweizer Käse, der seit wenigen Jahren den amerikanischen Markt erobert.

 

Ja, der Gruyère hat es geschafft. Er hat dem Emmentaler in den vergangenen Jahren den Rang abgelaufen – und ist heute der weltweit beliebteste Schweizer Käse.

 

Wie kam das?

 

Am Ende des steilen Pfades in den Freiburger Voralpen liegt die Alp Varvalanna, 1435 Meter über dem Meer. Im rustikalen Holzchalet steht Käseproduzent Philippe Ruffieux am offenen Feuer. Es ist eine Szene wie aus einer vergangenen Zeit, eine Show für die Gäste aus der Ferne: Über der Feuerstelle hängt an einem hölzernen Galgen ein großer Kupferkessel mit 600 Litern Milch. Aufmerksam kontrolliert Ruffieux die Temperatur, und auf sein Zeichen hin gibt seine Frau das Lab mit den Milchbakterien hinzu.

 

Am Ende des Vormittags werden daraus drei Laibe Gruyère d’Alpage. Jene ursprünglichste aller Gruyère-Sorten, die Sommer für Sommer noch heute auf mehr als fünfzig Alpen hergestellt wird. Und die ganz am Anfang des weltweiten Erfolgs des Gruyères stand.

 

Bis vor zehn Jahren war der Emmentaler der Schweizer Vorzeigekäse – und das knapp zweihundert Jahren lang. Exportiert in alle Welt, mit staatlicher Unterstützung in Millionenhöhe. Doch um die Jahrtausendwende begann der Niedergang, die Produktionszahlen brachen ein.

 

Gleichzeitig stieg der Gruyère-Absatz. Im Jahr 2009 produzierten die Schweizer Bauern erstmals mehr Gruyère als Emmentaler. Und in den vergangenen zwölf Monaten überflügelte der Gruyère den Emmentaler auch im Exportgeschäft. Besonders gefragt ist der Hartkäse in den USA: Jeder zehnte Gruyère-Laib reist in einem Container über den Atlantik. Ann Campbell berät in Philadelphia ihre Kunden beim Käsespezialisten Di Bruno Bros. Sie sagt, der Gruyère zähle für viele zu den besten europäischen Käsesorten überhaupt. Die Amerikaner verbinden ihn mit Tradition und einer idyllischen, naturnahen Landwirtschaft.

 

Auf der Alp Varvalanna macht Philippe Ruffieux die sogenannte Harfe bereit. Die Milch ist inzwischen zu einer dicklichen Masse geronnen. Der Käser nimmt das mit scharfen Saiten bespannte Rührinstrument und beginnt, in regelmäßigen Bewegungen die „Käsete“ in kleine Stücke zu schneiden.

 

Was ist das Geheimnis hinter dem Erfolg?

 

Das Risiko für die Qualität des Käses trägt das Ehepaar Ruffieux selbst. Pro Kilo zahlt ihm der Affineur, der sich um die Lagerung kümmert, knapp elf Franken. Vorausgesetzt, der gereifte Käse erfüllt den Qualitätsstandard. Wie viel er in einem Alpsommer verdient, möchte Ruffieux nicht sagen, nur so viel: „Wir kommen auf einen vernünftigen Lohn, der zum Leben reicht.“ Ein gutes Geschäft macht Ruffieux auch im Winter, wenn er wieder im Tal ist. Für seine Milch, die er dann an eine Gruyère-Käserei liefert, erhält er 85 Rappen pro Liter. Ein Preis, von dem andere Milchbauern träumen.

 

Die drei Amerikanerinnen stehen mit gezückten Smartphones neben dem Kessel, filmen und fotografieren, wie Ruffieux mit der Harfe durch den Kessel fährt. Izzy lädt die Aufnahmen direkt auf ihren Instragram-Account mit 23.000 Followern. Hashtag #cheesemaker #tradition #gruyere. Die Gruyère-Konsumenten in den USA beschreibt sie so: „gut gebildet, mittleres Alter und ernährungsbewusst.“ Zahl steigend.

 

Sie selbst arbeitet bei Peterson Cheese Company, einem Lebensmittelhändler im Nordwesten der Vereinigten Staaten. Dort steuert sie ihren Spezialitäten-Lieferwagen jeden Tag durch Oregon und Washington. Zu ihren Kunden zählen vor allem Restaurantbesitzer, denen Käse allein nicht genügt. Sie wollen auch die Geschichte dahinter. „Von meiner Reise in die Schweiz werden deshalb auch die Kunden profitieren“, sagt Izzy. Und sie berichtet davon, wie in den USA die Nachfrage nach hochwertigen Lebensmitteln steigt.

 

So idyllisch die Szenerie auf der Alp Varvalanna auch scheint, es ist nur ein kleiner Teil der jährlich knapp 30.000 Tonnen Gruyère, der auf diese ursprüngliche Art entsteht. Die großen Mengen produzieren die 170 Dorfkäsereien in den Tälern zwischen Genferseee, Alpen und Juragebirge. Im Zentrum des Gebiets steht das mittelalterliche Dorf Gruyère, das dem Käse zu seinem Namen verhalf. Hier liegt auch das Gruyère-Genossenschaftszentrum, Hauptsitz der Sortenorganisation Gruyère AOP und Touristenmagnet zugleich. Ein moderner Bau mit Shop, Museum und Schaukäserei. Jedes Jahr lockt das Zentrum mehr als 600.000 Besucher, darunter vielköpfige chinesische Reisegruppen, die aus großen Töpfen Fondue essen.

 

Im ersten Stock hat Philippe Bardet sein Büro. Der Mann mit kräftiger Statur und sonnengegerbter Haut leitet die Branchenorganisation Gruyère AOP seit ihrer Gründung vor zwanzig Jahren. Was er entscheidet, hat für die Gruyère-Bauern viel Gewicht. Die Organisation legt den Richtpreis fest, bestimmt darüber, wie viel Gruyère ihre Mitglieder produzieren dürfen – und wie viel Geld sie in die Marketingkasse abgeben müssen.

 

An der Wand hinter Bardet hängt eine Weltkarte. Mit Nadeln sind jene Länder markiert, in welche der Gruyère exportiert wird. Zurzeit sind es 54. Seit zehn Jahren steigert Gruyère den Export, zwischen Mai 2016 und April 2017 exportierte die Organisation 12.000 Tonnen Käse, rund 400 Tonnen mehr als die Emmentaler- Konkurrenz. Und es deutet nichts darauf hin, dass sich am neuen Kräfteverhältnis so bald wieder etwas ändert.

 

Was ist das Geheimnis hinter dem Erfolg des Käses aus den Freiburger Voralpen?

 

Philippe Bardet antwortet mit einer Werbefloskel: „Ganz einfach – der Gruyère ist eben ein gutes Produkt mit langer Tradition.“ Dass dahinter auch eine gewisse Wahrheit liegt, bestätigt alle zwei Jahre die Jury des Swiss Cheese Award. Zehnmal hat sie bisher den besten Schweizer Käse erkoren, sechsmal war der Gewinner ein Gruyère.

 

Damit der Käse seine Qualität halten kann, müssen die Produzenten ein strenges Pflichtenheft befolgen. Knapp drei Viertel des Futters, das die Bauern ihren Tieren verfüttern, muss vom eigenen Hof stammen. Verboten sind Melkroboter und Wachstumshormone. 20 Kilometer dürfen maximal zwischen Bauernhof und Käserei liegen. Die Käsekessel müssen aus Kupfer sein, die Laibe in den Kellern auf ungehobelten Fichtenbrettern lagern. Das Einhalten dieser Vorgaben wird streng kontrolliert.

 

„Wir müssen einzigartig bleiben“

 

Entscheidend für den Erfolg des Gruyères sind aber nicht nur die Regeln zur Qualitätssicherung. Der Käse, über Jahrhunderte ausschließlich auf Alpen produziert, hat tatsächlich auch eine lange Tradition. Wie der Emmentaler, nur haben die Vermarkter des Gruyères nicht die gleichen Fehler gemacht.

 

Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs entstand in der Schweiz die Käseunion. Sie garantierte den Bauern hohe Fixpreise, gab Millionen für Marketing aus und hielt so die Absatzmengen hoch.

 

Nur wenige ausgewählte Hartkäse kamen in den Genuss dieser Förderung. Der große Gewinner war der Emmentaler, dessen Produktion unterstützt wurde wie keine andere. Seine Exportzahlen explodierten, aufwendige Werbekampagnen machten seine Löcher weltberühmt.

 

Die Gesamtrechnung ging jedoch immer weniger auf. Die Millionendefizite der Käseunion deckte der Bund, weshalb die privatrechtlich organisierte Aktiengesellschaft zunehmend in die Kritik und unter Druck geriet. Die Staatsanwaltschaft ermittelte sogar wegen Korruptionsvorwürfen.

 

Kurz vor der Jahrtausendwende löste sich die Union auf und entließ die Produzenten in einen weitgehend liberalisierten Markt.

 

Seither befinden sich die Exportzahlen des Emmentalers in freiem Fall. Billigere Nachahmungen eroberten den Markt, oft unter demselben Namen wie das Original.

 

Gruyère hingegen ließ seinen Namen schützen. Das ist nicht ganz einfach, denn vor allem in den USA gibt es viele Käseproduzenten, die ihr Produkt als Gruyère vermarkten. Manche sind Nachkommen von Schweizer Auswanderern, die das Käsehandwerk in der neuen Heimat unter altem Namen weitergeführt haben. Doch die Branchenorganisation kennt in solchen Fällen keine Gnade. Wenn Gespräche nicht zum Erfolg führen, geht Gruyère AOP vor Gericht. Fast 300.000 Franken sind jährlich für Rechtsstreitigkeiten budgetiert. „Wir müssen einzigartig bleiben, wenn wir langfristig überleben wollen“, sagt Gruyère-Chef Bardet.

 

Auf der Alp Varvalanna ist Käser Philippe Ruffieux beim entscheidenden Schritt angelangt. Der Kupferkessel hängt jetzt über dem offenen Feuer. Wendy, Ann und Izzy stehen daneben, noch immer beeindruckt von der Alp-Show, davon, wie viel Aufwand das Käsen bedeutet. „Was machen Sie, wenn Sie krank sind?“, will Ann wissen. Der Käser und seine Frau lachen. Zum Kranksein hätten sie während des Alpsommers schlicht keine Zeit.

 

Dann drängt die Reiseleiterin zum Aufbruch. Unten im Tal wartet auf dem Parkplatz bereits ihr Kleinbus, am Nachmittag werden die drei Amerikanerinnen eine Dorfkäserei im Tal besichtigen.

 

Vor dem Chalet macht Wendy noch ein letztes Bild. Ruffieux steht im Eingang, in den Händen einen Laib Gruyère, im Hintergrund die Berggipfel. Die Käsehändlerin stellt es gleich auf ihr Instagram-Profil. Hashtag #lovewhatyoudo #hardwork.

 

„Beautiful“, kommentiert der erste Follower nach ein paar Sekunden. Die Bilderbuch-Schweiz zieht, von ihr träumen die Konsumenten in den USA. Gerade wenn es um Schweizer Käse geht.