Kürzen bei den Schwächsten

Philip Bürli

Der Kanton Bern will die Sozialhilfe kürzen. Und treibt damit tausende Betroffene weiter an den Rand. Die Gegner drohen mit einem Referendum und rechtlichen Schritten.

 

Ein altes Bauernhaus am Stadtrand von Bern. Am Tisch in der kleinen Küche sitzt Fabian D. und dreht eine Zigarette. 28 Jahre alt, schulterlange Haare, Künstler, Sozialhilfebezüger. Die Dreizimmerwohnung und die kleine Küche teilt er mit einer Gymnasiallehrerin. Es ist sein erster fester Wohnsitz seit drei Jahren.

 

Fabian D. ist seit Langem vertraut mit dem Leben an der Armutsgrenze. Aufgewachsen im Wallis, musste seine alleinerziehende Mutter während seiner Kindheit Alimentenbevorschussung beziehen. Das Geld war immer knapp. Dennoch entschloss er sich nach einer gescheiterten Lehre als Schlosser für ein Studium an der Kunsthochschule Luzern. «Damals dachte ich noch, dass auch mir alle Möglichkeiten offenstehen. Schliesslich wird einem in der Schweiz suggeriert, dass es jeder schaffen könne. Aber ich merkte bald nach Studienbeginn, dass ich mich geirrt hatte.» Umgeben von Studierenden, die von ihren Eltern unterstützt wurden, musste er seine Ausgaben mit einem knappen Stipendium finanzieren. Zusätzlich verdiente er etwas Geld bei einem Zügelunternehmen. Zum Leben blieben ihm dennoch selten mehr als ein paar hundert Franken. Immer öfter konnte er Rechnungen nicht bezahlen. Auf Mahnungen folgten die ersten Betreibungen. Schulden, die er bis heute abbezahlt: Krankenkassenprämien, Steuern und Ausbildungsdarlehen. Im Sommer 2016 schloss er sein Studium ab. Vier Monate später, sein Konto war leer und er noch immer ohne Arbeit, meldete er sich bei der Sozialhilfe. Der Grundbedarf für allein lebende Personen beträgt in Bern 977 Franken. Weil Fabian D. in einer Wohngemeinschaft lebt, sind es nur 747 Franken. Und bald könnten es 60 Franken weniger sein.

 

 

Der Kanton Bern soll sparen. Das verlangt die bürgerliche Mehrheit im Berner Regierungsrat und im Kantonsparlament. Um 160 Millionen wollen die Politikerinnen und Politiker die Ausgaben kürzen. Das sogenannte Entlastungspaket gleicht einem Kahlschlag quer durch den Sozialbereich. Einsparungen sind unter anderem bei der Spitex, der Bildung, der Familienberatung und der Drogenabgabestelle geplant. Am stärksten trifft es die Sozialhilfe. Künftig sollen Sozialhilfebezüger, die älter sind als 25 Jahre, acht Prozent weniger Sozialhilfe erhalten, also 900 statt 977 Franken im Monat. Für vorläufig Aufgenommene, Bezüger ohne Kenntnisse einer der beiden Amtssprachen sowie junge Erwachsene bis 25 Jahre soll der Grundbedarf sogar um 15 Prozent gekürzt werden.

Die drastische Massnahme ist so etwas wie eine Kompromisslösung. Die Kantonsregierung hatte ursprünglich den Grundbedarf um zehn Prozent kürzen wollen. Die BDP schlug schliesslich die Kürzung um acht Prozent vor. Während einer ersten Lesung im Dezember hat das Kantonsparlament den Sparmassnahmen in der leicht modifizierten Form deutlich zugestimmt. Die Schlussabstimmung findet Mitte März statt. Tritt das angepasste Sozialhilfegesetz in Kraft, würde Bern die Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS), die vor 20 Jahren eingeführt wurden, deutlich unterschreiten. Und so wenig Sozialhilfe ausbezahlen wie kein anderer Schweizer Kanton. Betroffen wären jährlich mehr als 40 000 Personen, ein Drittel davon Kinder und Jugendliche.

 

Die Empörung über die Sparpläne in Bern ist gross. Bei vier Kundgebungen protestierten im vergangenen halben Jahr jeweils mehr als tausend Menschen gegen die Kürzungen. «Schnegg muss weg», riefen die Demonstranten auf Berns Strassen und meinten damit den SVP­Regierungsrat Pierre Alain Schnegg, der 2016 den Sitz des zurückgetretenen SP­Sozialdirektors Philippe Perrenoud erobert und den Kürzungen der Sozialhilfe – eine alte Forderung der SVP – massgeblich zum Durchbruch verholfen hatte. Schnegg machte sich in kürzester Zeit zu einem Feindbild in links­grünen Kreisen der Gesellschaft. Grossräte von SP und Grünen bezeichneten die Forderungen als «Provokation» und «Schande». «Ein Mann ist dabei, das Leben von gut einer Viertelmillion Menschen zum Schlechten zu verändern», schrieb die Wochenzeitung.

 

Dabei stellen die Gegner nicht nur die Massnahmen infrage, sondern den Sparentscheid ganz grundsätzlich. Denn über die vergangenen Jahre betrachtet, geht es dem Kanton Bern wirtschaftlich gut. Mit Ausnahme des Jahres 2012 weist der bernische Finanzhaushalt seit 1998 immer Überschüsse aus. Das zentrale Argument der Befürworter der Sparmassnahmen sind die geplanten Steuersenkungen für Unternehmen. Ebenfalls ein Projekt aus bürgerlichen Reihen, das grosse Unternehmen anlocken und dafür die Gewinnsteuern senken soll. Von heute 21,6 auf 18,2 Prozent in den nächsten acht Jahren. Die dadurch verursachten Einnahmeausfälle werden auf 45 Millionen Franken für 2019 und auf 103 Millionen Franken ab 2020 beziffert. Steuergeschenke für die Firmen, Einsparungen bei den Armen: Es erstaunt nicht, dass die Emotionen im Kanton zurzeit hochgehen. Dabei könnte Bern nur der Anfang sein, befürchten die Gegner. Ob in Baselland, Aargau oder Schwyz: In zahlreichen weiteren Kantonen verlangt die SVP ebenfalls Kürzungen in der Sozialhilfe. Ganz in Übereinstimmung mit einem Positionspapier aus dem Jahr 2015, in dem die Partei eine schweizweite Senkung der Sozialhilfe auf 600 Franken fordert.

Fabian D. möchte arbeiten, wieder Anschluss finden an die Gesellschaft und einen Beitrag leisten, wie er sagt. Er bewirbt sich im Kunstbereich, bei Museen und Verlagen, dort, wo er am liebsten arbeiten möchte. Aber auch im Verkauf, in der Gastronomie oder als Bürokraft. Bis zu 20 Bewerbungen schreibe er pro Monat. «Doch egal, wo ich mich bewerbe, ich erhalte überall nur Absagen, und niemand kann mir sagen, woran es liegt.» Vielleicht, vermutet er, liegt es auch an seinem arabischen Familiennamen. Von seinen 747 Franken Sozialhilfe bezahlt er Lebensmittel, Telefonkosten, Schulden, Tabak. Einmal im Monat besucht er mit dem Zug seine Mutter und seinen Bruder im Wallis. Wenn das Geld reicht, kauft er sich ein Buch oder besucht eine Ausstellung. Für vieles fehlen ihm die Mittel: eine Mitgliedschaft im Berufsverband der Kunstschaffenden, ein Atelier, in dem er auch grossflächige Bilder malen könnte, neue Saiten für seine alte Bassgitarre. «Am meisten eingeschränkt fühle ich mich aber bei der sozialen Teilhabe. Freunde in Luzern treffen, eine Ausstellung oder ein Konzert besuchen, all das ist mit Kosten verbunden. Dabei wäre dies nicht nur für mein Wohlbefinden wichtig, sondern auch im Hinblick auf meine beruflichen Möglichkeiten.»

 

Aus der Empörung über die geplanten Kürzungen ist in der Stadt Bern eine soziale Bewegung entstanden. Zu den zentralen Personen des Widerstandes gehört Anna Bouwmeester, eine Frau mit kurzen blonden Haaren, Tätowierungen auf den Fingerknochen und entschlossenem Blick. Für ein Treffen schlägt sie die Genossenschaftsbeiz Brasserie Lorraine vor. Die 31­jährige Sozialarbeiterin hat im vergangenen Sommer die erste Kundgebung gegen die Sparmassnahmen mitorganisiert und das Kollektiv «Kampagne Verkehrt» mitbegründet, das sich gemeinsam mit Avenir Social, dem Berufsverband der sozialen Arbeit, gegen die Kürzungen zur Wehr setzt. Sie sei während der Grossratsdiskussion im Dezember auf der Tribüne gesessen. «Was da zum Teil für Voten gehalten wurden, das war kaum auszuhalten. Haben diese Politiker eigentlich ein Bewusstsein dafür, was acht Prozent weniger Geld für manche Menschen bedeuten?» Die Entwicklung im Kanton Bern zeige exemplarisch, wie die Ungleichheit in der Gesellschaft zunehme, sagt Anna Bouwmeester. Unternehmen würden beschenkt, Armutsbetroffene beschnitten. «Die Bürgerlichen setzen einen neoliberalen Coup durch. Auf Kosten der Schwächsten.»

 

Eine halbe Stunde später trifft sich im ersten Stock der Genossenschaftsbeiz die Gruppe «Kahlschlag Stoppen» zu einer offenen Sitzung. Ihr Ziel: die geplanten Sparmassnahmen bekämpfen. Um den grossen Tisch sitzen ein gutes Dutzend Menschen. Lehrer, eine Sängerin, Sozialarbeiterinnen in Ausbildung, Armutsbetroffene, ein Grossrat der Grünen, auch Anna Bouwmeester ist Teil der Runde. Quer über den Holztisch werden die nächsten Aktionen diskutiert. Vor der zweiten Lesung des Grossen Rates im März wollen sie eine grosse Kundgebung organisieren.

«Wir müssen vor dem Rathaus stehen, wenn diese Damen und Herren über das Leben von anderen Menschen befinden», sagt der Lehrer. «Wir müssen den Menschen klarmachen, dass eines Tages auch sie von den Sparmassnahmen betroffen sein können», sagt die Sängerin. Alle sind sich einig: Der Protest konzentriert sich zu stark auf die Stadt Bern, das muss sich ändern. In einer Woche will eine Gruppe das Raclette­Essen eines Eishockeyvereins im Berner Mittelland besuchen und die Anwesenden über die Problematik der Sparmassnahmen informieren. Daran, dass sich am Ausgang der Abstimmung im Parlament noch etwas ändern lässt, glaubt allerdings kaum jemand. Doch aufgeben ist für die Anwesenden keine Option.

 

Nicht nur die Aktivisten und Aktivistinnen, auch die linken Parteien haben einen schweren Stand gegenüber der bürgerlichen Übermacht im Parlament und in der Regierung. «Ich kann die Motive der Befürworter nicht verstehen», sagt Ursula Marti, Kantonspräsidentin der SP Bern, Frustration klingt in ihrer Stimme mit. Sie vermute, es habe viel zu tun mit der Persönlichkeit der Drahtziehenden, allen voran Pierre Alain Schnegg. «Er und seine Mitstreiter können sich nicht vorstellen, dass es Lebenssituationen gibt, die man beim besten Willen nicht alleine bewältigen kann und in denen man auf Unterstützung angewiesen ist.» Aufgeben wollen auch die linken Parteien nicht. Alles deutet darauf hin, dass sie nach der Abstimmung vom März im Grossen Rat das Referendum gegen die Kürzungen ergreifen werden.

 

Das Referendum ist eine von zwei Möglichkeiten, wie die Gegner die Kürzungen verhindern können. Die andere Möglichkeit ist eine juristische Beschwerde. Hinter verschlossenen Türen diskutieren die linken Parteien bereits über die Möglichkeit eines Rekurses. Unterstützung erhalten die Gegner dabei aus Zürich von Pierre Heusser, einem renommierten Anwalt für Sozialhilferecht. Er beobachtet die geplanten Kürzungen in Bern mit Sorge. «Die Richtlinien der SKOS liegen bereits heute unterhalb des sozialen Existenzminimums», sagt Heusser. Für ihn ist klar: «Die geplanten Kürzungen im Kanton Bern verstossen gegen das geltende Verfassungsrecht.» Der Kanton setzte die Sozialhilfeansätze willkürlich fest und je nach Personengruppe nach sachfremden Kriterien. «Oder welchen sachlichen Grund gibt es, im Kanton Bern einem Italienisch sprechenden Tessiner weniger Sozialhilfe auszurichten als einem Französisch sprechenden Westschweizer? Was für einen Sachgrund gibt es, einem 25­Jährigen einen Fünftel weniger Sozialhilfe zu gewähren als einem 26­Jährigen?» Wer die Sozialhilfeansätze viel tiefer als das soziale Existenzminimum und je nach Personengruppe nach willkürlichen und sachfremden Kriterien festsetze, der verletze nicht nur das Willkür­ und Diskriminierungsverbot sowie das Gleichbehandlungsgebot, sondern darüber hinaus das Recht auf Existenzsicherung und im Endeffekt die Menschenwürde der betroffenen Personen, so Rechtsanwalt Pierre Heusser. Sollten sich die Kürzungen durch ein Referendum nicht verhindern lassen, will der Anwalt die Gegner bei einer Beschwerde unterstützen.

 

Vor den Fenstern des Bauernhauses am Stadtrand von Bern ist es Abend geworden. Die Mitbewohnerin von Fabian betritt die Küche. Die Gymnasiallehrerin ist etwas älter als er. Sie hängt ihre Jacke über einen Stuhl und räumt Gemüse aus ihrer Tasche in den Kühlschrank. «Wenn ich alleine wohnen würde, wäre der Kühlschrank jetzt leer», sagt Fabian. Es ist Ende Monat und sein Geld so gut wie aufgebraucht. Was wird er tun, wenn der Kanton seine Sozialhilfe um 60 Franken kürzt? Er werde keine Darlehen mehr zurückzahlen und noch weniger am Sozialleben teilhaben können. Er werde bei den Arbeitsmaterialien für die Malerei sparen müssen, wieder vermehrt Essen aus den Abfallcontainern der Grossverteiler fischen. Er könne sich vielleicht kein Halbtax mehr leisten oder seine Familie noch seltener besuchen. «Und dabei spreche ich nur von mir, eine Familie mit Kindern ist nochmal in ganz anderen Dimensionen betroffen.» Seine Mitbewohnerin setzt sich dazu, indirekt ist sie ebenfalls von den Sparmassnahmen betroffen. Eines ihrer Studienfächer hat der Kanton bereits weggekürzt. «Die Politik hat einfach völlig die Relationen aus den Augen verloren», sagt sie. Die beiden sprechen von den Milliarden zur Rettung der UBS, von der Ostmilliarde, mit der die Schweiz die Entwicklung in Osteuropa unterstützt. Und von Bundesrat Johann Schneider­Ammann, der mit seinem im Kanton Bern domizilierten Unternehmen über Jahrzehnte 250 Millionen Franken in Offshore­Paradiese transferierte, um Steuern zu sparen.

 

«Ich fühle mich ausgeliefert», sagt Fabian D. am Ende des Gesprächs. «Gegenüber einem willkürlichen System, das schalten und walten kann, wie es will.» Die Richtlinien der Sozialhilfekonferenz schrieben vor, wie viel ein Mensch für ein menschenwürdiges Leben benötige. «Mit den Kürzungen wird den Betroffenen nur noch ein bedingt menschenwürdiges Leben zugesprochen.» Es drohten Ohnmacht, Lethargie, Aggression. Denn acht Prozent weniger, das ist viel Geld. Besonders, wenn jemand am Existenzminimum lebt.