Bern, Tscharnergut, an einem kalten Wintermorgen. Der Wind treibt vereinzelte Schneeflocken an den Hochhäusern vorbei, während sich im Café der Siedlung eine Gruppe von 30 Frauen versammelt. Manche sind seit wenigen Monaten in der Schweiz, andere seit vielen Jahren. Für sie alle ist Deutsch eine Fremdsprache, ihre Chancen auf eine Arbeitsstelle tendieren gegen null. Hier, in den Hinterzimmern des Cafés, wollen sie ihre Sprachkenntnisse verbessern und Anschluss finden an das gesellschaftliche Zusammenleben in der Schweiz. «Ich komme aus der Schweiz, woher kommst du?», fragt die Lehrerin die junge Frau zu ihrer Rechten. «Ich komme aus Sambia, woher kommst du?», fragt diese ihre Sitznachbarin, und so geht es rund um den grossen Tisch.
Die halbe Welt ist an diesem Morgen hier versammelt, die Frauen kommen von der Elfenbeinküste, aus den USA, dem Irak, aus Tibet, Iran, Sri Lanka oder Peru. Den wöchentlichen Sprachunterricht organisiert der Verein TagesAuPairs. Daneben vermittelt er die Frauen für einen weiteren Tag in der Woche an Schweizer Familien. Gegen einen kleinen Stundenlohn helfen die Frauen dort beim Kochen, Einkaufen oder kümmern sich um die Kinder. Im Gegenzug unterstützen die Familien die Frauen bei der Integration, sprechen mit ihnen deutsch und binden sie in das Familienleben ein. Dekyi M., eine junge Frau aus Tibet, lebt seit drei Jahren in der Schweiz und hat die vergangenen Monate an einem solchen Austausch teilgenommen. «Das war eine wunderbare Erfahrung», sagt sie in sorgfältig formuliertem Deutsch. Sie habe mit der Familie Weihnachten gefeiert, viel gelernt und, für sie am wichtigsten, ihre Chancen auf eine Ausbildung verbessert. Integration ist das eine Ziel des Projektes, das andere ist die Bekämpfung von Armut.
Etwas für Linke
Armut in der Schweiz: Damit hatten sich bis vor Kurzem vornehmlich Hilfswerke und die politisch Linke beschäftigt. Der grösste Teil von Politik, Behörden und Wirtschaft aber behandelte das Thema bestenfalls mit stiefmütterlicher Zurückhaltung oder bezweifelte grundsätzlich, ob es in der Schweiz überhaupt so etwas wie Armut gibt. Dies begann sich mit der ersten Armutskonferenz zu ändern, die der Bund 2003 durchführte. Es folgten Vorstösse im Parlament, eine weitere Konferenz, schliesslich beschloss der Bundesrat eine gesamtschweizerische Strategie zur Armutsbekämpfung und lancierte vor zwei Jahren das Nationale Programm zur Bekämpfung und Prävention von Armut. Auch die Kantone schauen heute genauer hin, rund ein Dutzend haben in den vergangenen Jahren Armutsberichte eingeführt. Noch nie wurde bei den Behörden und in der Politik so viel über Armut gesprochen wie gerade jetzt. Und obwohl das Thema auf der öffentlichen Agenda angekommen ist, bezweifeln Forscher und Hilfswerke, dass die Armut in der Schweiz heute wirksamer bekämpft wird als in der Vergangenheit.
Die Schwierigkeiten der Debatte beginnen bereits mit der Terminologie. Wenn Politiker oder Behörden über Armut in der Schweiz sprechen, ist nicht immer klar, was sie damit meinen.
Gemäss der Weltbank gilt als arm, wer pro Tag von weniger als 1,25 US-Dollar leben muss. Gemäss dieser Definition gäbe es in der Schweiz tatsächlich keine Armut. Ist also von der relativen Armut die Rede, die im Verhältnis zum landesspezifischen Wohlstandsniveau steht? Sind all jene Menschen gemeint, die Anspruch auf Ergänzungsleistungen haben? Oder jene, die unterhalb des Existenzminimums leben? Dieses liegt in der Schweiz derzeit bei rund 2200 Franken pro Monat für eine Einzelperson und 4050 Franken pro Monat für einen Haushalt mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern. Darauf bezieht sich beispielsweise die Armutsstatistik des Bundes: Gemäss der letzten Erhebung sind 7,7 Prozent der ständigen Wohnbevölkerung von Armut betroffen. Somit fehlen rund 590 000 Personen die finanziellen Mittel, um ihre Grundbedürfnisse finanzieren zu können. Eine weitere Million Menschen in der Schweiz ist unmittelbar von Armut bedroht.
fribap und ping:pong
Gabriela Felder leitet beim Eidgenössischen Departement des Inneren das Nationale Programm zur Prävention und Bekämpfung von Armut, das vor zwei Jahren startete und hohe Erwartungen weckte. Doch mit einem Budget von gerade einmal neun Millionen Franken über insgesamt vier Jahre sind die Möglichkeiten beschränkt. «Als befristetes Programm können wir Grundlagen schaffen, aber keine langfristigen Regelstrukturen aufbauen oder unterstützen», sagt Gabriela Felder. Bei der Definition von Armut zögert selbst sie. «Das ist nicht einfach zu beantworten, da ein einheitliches und umfassendes Verständnis fehlt. Armut beinhaltet verschiedene Dimensionen wie Einkommensarmut, wenig soziale Kontakte, fehlende Bildung. Das Programm soll zu einem klareren Verständnis beitragen.» Kompliziert ist nicht nur die Definition, auch die Ziele des Programms kurz und verständlich zu formulieren ist nicht ganz einfach: Wenn Gabriela Felder über das Programm spricht, benutzt sie Begriffe wie «Analyse», «Evaluation», «Multiplikatoren» und «Dimensionen» – die Sprache der Armutsbekämpfung ist kompliziert. Zusammengefasst soll das Programm den Gemeinden und Kantonen neue Erkenntnisse und Mittel zur Armutsbekämpfung liefern und die verschiedenen Stellen stärker miteinander vernetzen.
Einen Grossteil des Budgets verwenden die Verantwortlichen zur Förderung von bestehenden Projekten im Armutsbereich. Eines davon ist Tages-AuPairs in Bern, andere tragen Namen wie fribap, jobBooster oder ping:pong (siehe Seite 17). Besonders im Fokus stehen dabei die Bildungschancen von sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen. Ein Projekt mit dem Titel «Gemeinsam zum Erfolg» beispielsweise will die Zahl von Lehrabbrüchen reduzieren. Das Pilotprojekt findet derzeit an zwei Schulen für Berufe im Bauwesen und in der Gastronomie statt – beides Berufsgruppen, in denen Lehrabbrüche besonders häufig vorkommen. Weil mangelnde sprachliche oder soziale Kompetenzen als Hauptgründe für Lehrabbrüche gelten, sollen Lehrpersonen gefährdete Jugendliche frühzeitig entdecken und ihnen professionelle Begleitung zur Seite stellen. Denn in einem Punkt ist sich die Forschung einig: Eine abgeschlossene Ausbildung ist eine der besten Vorkehrungen, um einem späteren Abgleiten in die Armut entgegenzuwirken.
Betty Bossi hilft nicht
Carlo Knöpfel, Professor für Sozialpolitik und Soziale Arbeit an der Fachhochschule Nordwestschweiz, befasst sich seit vielen Jahren mit Armut in der Schweiz. Er werde immer wieder nach Lösungsansätzen, Instrumenten und Mitteln gefragt, sagt er.
«Doch das ist nicht so Betty-Bossi-mässig, einfache Rezepte gibt es keine.»
Wichtig sei insbesondere, dass Kinder aus benachteiligten Familien ausreichend gefördert werden, um der Armut zu entkommen. «Wenn das gelingt, hat die Armutsbekämpfung etwas Wesentliches erreicht.» Dem Bundesprogramm gegen Armut bescheinigt er ein «gewisses Engagement» bei jungen Erwachsenen, mehr Lob ist von ihm nicht zu hören. Stattdessen hinterfragt er, ob das Programm überhaupt zu einer effektiven Bekämpfung beitrage. «Die Hoffnungen waren, dass der Bund selber aktiver wird. Doch mit diesem befristeten Programm schiebt er die Armutsbekämpfung einmal mehr auf die Kantone und die Gemeinden ab.» Eine Tendenz, die auch Hilfswerke und linke Parlamentarier kritisch beobachten. «Ein einheitliches Vorgehen fehlt nach wie vor. Und bei den Kantonen verfolgt jeder seine eigene Strategie», sagt Knöpfel. Nebst einigen Fortschritten, wie etwa den Armutsberichten, entwickelt sich auf kantonaler Ebene manches auch zum Nachteil der Betroffenen, wie die Caritas in einem aktuellen Bericht schreibt: So beschlossen beispielsweise die Kantone Wallis und Bern massive Kürzungen bei der Sozialhilfe, zu Verschärfungen kam es zudem in Zürich und Nidwalden. Auch bei der Prämienverbilligung haben zahlreiche Kantone die Leistungen gekürzt. Die Beträge in dreistelliger Millionenhöhe, die dabei gespart werden, lassen die Investitionen für das Nationale Programm äusserst bescheiden aussehen. «All das deutet für mich nicht darauf hin, dass die Schweiz geeint gegen Armut vorgeht», sagt Carlo Knöpfel, der selbst viele Jahre in der Caritas-Geschäftsleitung sass.
«Im Winter warm»
Wie wenig im Kampf gegen Armut vom neu gewählten Bundesparlament zu erwarten ist, zeigt zudem eine aktuelle Untersuchung von Smartvote: Demnach sprechen sich gerade nur 52 von 200 Nationalräten für eine Erhöhung der sozialpolitischen Ausgaben aus, 96 Nationalräte möchten diese in Zukunft reduzieren. Wie viel Ignoranz gewisse Politiker dem Thema immer noch entgegenbringen, bewies eine Woche vor Weihnachten der SVP-Nationalrat Sebastian Frehner anschaulich: In einer Debatte zur Revision der AHV behauptete er vor versammeltem Nationalrat, «dass es in der Schweiz keine armen Leute gibt, die legal hier wohnen. Es haben nämlich alle ein Dach über dem Kopf, alle haben genug zu essen, eine obligatorische Krankenversicherung und im Winter warm.» Dabei dürfte auch ihm bekannt sein, dass schweizweit rund 150000 Personen wegen unbezahlter Rechnungen nur noch in Notsituationen medizinische Versorgung beziehen können und allein in seinem Heimatkanton Basel-Stadt mehrere hundert Personen ohne festen Wohnsitz leben.
Dekyi M., die junge Tibeterin im Café beim Tscharnergut in Bern, hat in der Nacht zwar ein Dach über dem Kopf, ausreichend zu essen und im Winter meistens warm. Armut beinhalte aber noch mehr, sagt sie. Beispielsweise keine Arbeit zu haben und nicht selber für sich sorgen zu können. «Ich möchte arbeiten und spüren, dass ich gebraucht werde.» Deshalb setzt sie alles daran, dass sie eine Ausbildung machen und irgendwann ihr Leben selber finanzieren kann. Diesem Ziel ist sie nun einen grossen Schritt nähergekommen: Dank ihrer Erfahrung als Au-Pair und ihrer Deutschkenntnisse kann sie in wenigen Wochen ein halbjähriges Praktikum in einem Altersheim beginnen. Einen wichtigen Schritt aus der Armut hat zumindest sie damit geschafft.