Das Leben nach dem Heim

In einer Ecke des Kindergartens soll Gael Plo gestanden und bis zur Erschöpfung geschrien haben. So hat man es ihm später erzählt. Immer wieder sei er aufgefallen, habe andere Kinder geschlagen, immer wieder Schreikrämpfe gehabt. Knapp drei Jahre zuvor war der Vater mit ihm und seinem älteren Bruder aus der Elfenbeinküste in die Schweiz gekommen, die Mutter blieb zurück. Hier angekommen, war der Vater überwiegend abwesend und vom Leben überfordert. Der Bruder war vom Bürgerkrieg in der Heimat traumatisiert und gewalttätig, er schlug seinen kleinen Bruder. Mit sechs brachten die Behörden Gael Plo in ein Kinderheim. In den folgenden zwölf Jahren lebte er in über einem Dutzend verschiedenen Heimen und Familien.

Seine Geschichte erzählt Gael Plo in einem Kaffee in Kleinbasel. Mit den breiten Schultern, dem massigen Körper und der ruhigen Stimme wirkt er deutlich älter als seine zwanzig Jahre. «Das hör ich oft», sagt er und lächelt. In all den Jahren in Heimen und wechselnden Familien wurde Gael Plo zu einem Meister der Anpassung. Immer und immer wieder wechselten die Betreuerinnen und Pädagogen, und mit ihnen die Regeln und Anforderungen. Er lernte, sich zu tarnen: Möglichst keine Emotionen zeigen, die eigenen Bedürfnisse ignorieren, freundlich bleiben. Er akzeptierte, dass meistens andere für ihn entschieden. Über die nächste Umplatzierung, über Besuchsrechte, die Ausbildung. Eine Strategie, die funktionierte – bis er volljährig wurde und das Heim verlassen sollte. Plötzlich musste er tun, was er davor kaum gelernt hatte.

Selbständig entscheiden, Verantwortung übernehmen, für sich selber schauen. «Dabei hatte ich keine Ahnung, wer ich überhaupt bin. Die jahrelange Anpassung in den Heimen hatte dazu geführt, dass ich mich selber nie wirklich kennengelernt habe.» Gael Plo war überfordert. Er fand keine Arbeit, verschuldete sich in wenigen Monaten, weil er die Rechnungen der Krankenkasse nicht bezahlen konnte und nicht wusste, dass er Prämienverbilligung beantragen könnte. Schliesslich beantragte er Sozialhilfe. «All diese Jahre im Heim waren nicht einfach», sagt er. «Doch die grösste Krise kam, als ich plötzlich auf mich allein gestellt war.»

Gael Plo ist kein Einzelfall, viele sogenannte «Care Leaver» haben ähnliche Probleme. Mit «Care Leaver» werden in der Fachwelt junge Erwachsene bezeichnet, die in Heimen oder bei Pflegefamilien aufwachsen und mit dem 18. Geburtstag unvermittelt auf eigenen Beinen stehen müssen. In der Schweiz endet die Kinder- und Jugendhilfe in der Regel mit Erreichen der Volljährigkeit. Beistände legen ihre Mandate nieder, die Finanzierung für den Platz im Heim oder in der Pflegefamilie endet, die Beziehungen zu Bezugspersonen brechen ab. Die Jugendlichen sind von nun an allein verantwortlich – für ihr Konto, ihren Alltag, ihr Leben.

Beatrice Knecht Krüger leitet das Kompetenzzentrum für Leaving Care in Bern. «Zuerst investiert der Staat viel Geld in die Unterbringung der Kinder und Jugendlichen, dann lässt er sie ab der Volljährigkeit alleine. Das ist eigentlich ein Skandal», sagt sie. Das Zentrum wurde im vergangenen Jahr gegründet und setzt sich schweizweit für die Verbesserung der Situation dieser jungen Erwachsenen ein. Erst langsam wächst in der Schweiz das Bewusstsein für das, was der Heimaustritt bei vielen Betroffenen auslöst. Kinder, die fremdplatziert aufwachsen, sind oft bereits vor dem formellen Erwachsenwerden benachteiligt. «Dadurch, dass sie mit 18 Jahren plötzlich auf sich allein gestellt sind, wird die Chancenungleichheit weiter verstärkt.» Viele befinden sich nach dem Austritt in prekären Verhältnissen, sind mit der Ausbildung in Verzug oder haben keinen Abschluss – und landen oft bei der Sozialhilfe. Einige erben zudem Krankenkassenschulden. Wenn Eltern die Rechnungen nicht bezahlen, gehen die Schulden in vielen Gemeinden direkt auf die Kinder über.Statistisch nicht erfasst

Wie viele junge Erwachsene in der Schweiz jedes Jahr aus einem Heim oder einer Pflegefamilie austreten, dazu gibt es keine genauen Zahlen. Die Anlaufstelle Pflege- und Adoptivkinder Schweiz erstellte 2017 eine Schätzung und kam auf rund 20 000 Kinder- und Jugendliche, die in der Schweiz in Pflegefamilien und Heimen aufwachsen. Aktuell befindet sich eine nationale Statistik im Aufbau. Untersuchungen aus anderen europäischen Ländern zeigen: Care Leaver zählen zu den am meisten von sozialer Ausgrenzung bedrohten Personenkreisen.

Als Gael Plo seinen 18. Geburtstag feierte, wohnte er in einer betreuten Aussenwohnung seines letzten Heims in Basel-Stadt. Ein paar Kollegen kamen zu Besuch, Freunde aus dem Heim und seinem American-Football-Team. Kurz zuvor hatte Plo die Lehre als Elektriker abgeschlossen. Er freute sich auf die nahende Freiheit, ohne zu wissen, was ihn erwartete. Mit der Volljährigkeit begann die Uhr zu ticken. Er brauchte möglichst bald eine eigene Wohnung und eine Anstellung. Fast jeden Tag landeten Schreiben von Ämtern in seinem Briefkasten, um die sich bis dahin sein Beistand gekümmert hatte. Weil Gael Plo keine Arbeit fand, meldete er sich bei der Sozialhilfe an. Dort verlangten die Beamten Steuerunterlagen von seinen Eltern, dabei hatte Plo zu seinem Vater kaum noch Kontakt. «Ich war nicht in der Lage, diese Dokumente zu liefern, das machte alles noch komplizierter.»

Nach einigen Wochen fand er ein Zimmer in einer WG, doch Ruhe fand er keine. Finanziell geriet er immer stärker unter Druck, die Rechnungen sammelten sich an, der Stress nahm zu, er konnte kaum mehr schlafen. In wenigen Monaten wollte er mit der Berufsmatur beginnen, die Zulassungsprüfung rückte näher. Gael Plo entschied sich fürs Lernen. Er liess die Mahnungen und Betreibungen ungeöffnet liegen und verliess die Wohnung nur noch zum Einkaufen. Als seine Mitbewohner von seinen finanziellen Problemen erfuhren, kündigten sie ihm das Zimmer, sie wollten keinen Mieter mit laufenden Betreibungen. «Ich dachte, ich bin am Arsch.»

Dorothee Schaffner ist Professorin für Soziale Arbeit an der FHNW, Kinder- und Jugendhilfe gehört zu ihren Forschungsschwerpunkten. «Es fehlt vielen Care Leavern an grundlegendem Wissen», sagt Schaffner. «Welche rechtlichen Ansprüche habe ich? Welches Amt unterstützt mich? Wie kann ich Stipendien oder Prämienverbilligungen? Wie rechne ich mit der Krankenkasse ab?» Sie schliesst in diesen Wochen ein partizipatives Forschungsprojekt ab, an dem Care Leaver mitgearbeitet haben. Ausgehend von der Studie zeichnet sich ab: Die Erfahrungen im Heim sind entscheidend dafür, wie der Übergang in ein selbstbestimmtes Leben gelingt. «Es braucht bereits im Heim Gelegenheiten für eigene Erfahrungen und das Lernen von Selbstverantwortung und Mitbestimmung». Doch das allein reiche nicht, viele Care Leaver benötigten nach dem Austritt weitere Unterstützungsangebote. «Dafür ist von allen Beteiligten im System mehr Sensibilität für diesen schwierigen Übergang gefordert: von den Heimen, den kantonalen Jugendhilfen und den involvierten Ämtern.» Ausgehend von internationaler Forschung wird das Thema Leaving Care in der Schweiz zunehmend beforscht. Nebst der FHNW führen derzeit auch die Universitären Psychiatrischen Kliniken UPK Basel, sowie die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW verschiedene Studien zum Thema durch.

Viele Länder haben in den vergangenen Jahren bereits politisch auf das Problem reagiert. In Norwegen können Care Leaver bis zum 23. Lebensjahr finanzielle Hilfe beziehen und werden darüber hinaus begleitet, wenn sie das möchten. In Grossbritannien unterstützt der Staat Care Leaver bis Mitte zwanzig mit verschiedenen Angeboten. In Kanada existiert unter anderem ein Programm, das ehemals Fremdplatzierten den Zugang zu Stipendien vereinfacht. In der Deutschschweiz haben bisher einzig die Kantone Basel-Stadt und Baselland das Gesetz so angepasst, dass auch junge Erwachsene unterstützt werden können. In Zürich und Bern sind ähnliche Gesetzesänderungen geplant. Ob junge Erwachsene nach dem Austritt aus dem Heim Unterstützung erhalten oder durch die Maschen fallen, bleibt so häufig Zufall. Abhängig vom Wohnort, dem Heim oder privater Hilfe.

Auch für Nora Mettler bedeutete der Austritt aus dem Heim einen harten Bruch. Ihren richtigen Namen möchte sie hier nicht lesen. Wie viele andere Care Leaverinnen empfindet sie ihre Vergangenheit als Stigma, will nicht, dass man sie darauf reduziert. Ihre Geschichte erzählt sie in einem Zürcher Café. Eine junge Frau mit funkelndem Blick, dunklen Locken und dichten Augenbrauen. Zum Gespräch musste sie sich überwinden, Nora Mettler schaut lieber nach vorne als zurück. Die heute 23-Jährige hatte bis zu ihrem 18. Geburtstag in über 20 Heimen und Pflegefamilien gelebt. Sie galt als Systemsprengerin: «Hat mir etwas nicht gepasst, bin ich ausgerastet», sagt sie. Am Ende gab es kaum ein Heim mehr, das sie aufnehmen wollte. Über die Gründe ihrer Wut wurde nur wenig gesprochen. Stattdessen stellten sie die Betreuungspersonen immer wieder mit Medikamenten ruhig. «Dabei war der Auslöser immer derselbe: Hat man über meinen Kopf hinweg entschieden, bin ich ausgetickt.» Und das passierte oft. Umplatzierungen, Besuchsrechte, Disziplinarmassnahmen – das meiste wurde hinter verschlossenen Türen entschieden.Zu wenig vorbereitet

Als sie 18 wurde, konnte Nora Mettler zu einer Bekannten ziehen, der ehemaligen Pflegemutter ihrer Schwester. «Das fühlte sich an wie eine unendlich grosse Befreiung. Endlich konnte ich tun, was ich wollte!» Nora Mettler ging zwei Jahre lang «chronisch» in den Ausgang, wie sie sagt. Lernte ihren ersten Freund kennen und stellte alle drei Monate ihr Zimmer um. «Das Letzte, was wir Care Leaver wollen, ist Mitleid!», sagt sie. «Die Karten, die ich in die Hand bekommen habe, sind nicht so gut wie bei anderen, und es läuft immer noch sehr vieles schief. Aber was man daraus macht, ist nicht in Stein gemeisselt!»

Nach dem Austritt geriet Nora Mettler in eine Krise. Weil sie vom Lehrlingslohn als Kleinkinderzieherin nicht leben konnte, musste sie Sozialhilfe beantragen. «Das war so etwas von entwürdigend.» Daneben jobbte sie in Bars und Clubs, doch auch so reichte das Geld immer nur knapp. Von der SBB erhielt sie Rechnungen über 1000 Franken für Bussen wegen Schwarzfahrens, die sich seit ihrer Kindheit angesammelt hatten. Auch die Krankenkasse mahnte bald eine Summe von 1500 Franken an, weil sie ihre Rechnungen nicht bezahlt hatte. «Da dachte ich, mir fällt die Welt auf den Kopf.» Auf die Herausforderungen eines selbständigen Lebens hatte sie keines der über 20 Heime vorbereitet.

Alexandra Wälti ist Sozialarbeiterin und hat selber mehrere Jahre in einem Kinderheim gearbeitet. Sie sagt: «Es geht um die Frage, welche Ziele die Heime verfolgen. Sollen Kinder einfach untergebracht werden oder vielmehr ihr Potential entfalten und auf ein eigenständiges Leben vorbereitet werden?» Wälti moderiert seit zwei Jahren das Care-Leaver-Netzwerk Basel. Eine Gruppe, die vor zwei Jahren aus einer Initiative der Fachhochschule Nordwestschweiz heraus entstanden ist. Hier sollen die jungen Erwachsenen unkompliziert Hilfe finden und sich gegenseitig unterstützen. Ein ähnliches Netzwerk ist vergangenes Jahr auf Initiative der ZHAW auch im Raum Zürich entstanden. «Ich hole die jungen Erwachsenen als Expertinnen und Experten ab. Die haben alle genug davon, sich als Problem behandeln zu lassen», sagt Wälti. Viele merkten erst im Austausch, dass sie mit ihren Schwierigkeiten nicht alleine sind. «Das kann sehr ermächtigend wirken», so Wälti. Rückblickend würde sie selbst heute als Sozialarbeiterin auch vieles anders machen, sagt sie: Die Jugendlichen besser vorbereiten, mehr Freiräume schaffen.

Im Leben von Gael Plo und Nora Mettler ist mittlerweile etwas Ruhe eingekehrt. Gael Plo hat vor wenigen Wochen die Berufsmatur erfolgreich beendet. Im Herbst beginnt er ein Praktikum in einer Personalabteilung, kommendes Jahr möchte er ein Wirtschaftsstudium anfangen. Nora Mettler schliesst gerade ihre zweite Ausbildung als Kaufmännische Angestellte ab und plant eine Weiterbildung an der KV Business School. Beide gehören zu jenen, die noch Glück hatten. Das sagen sie selber über sich. In ihren Fällen war es die Hilfe von einzelnen Menschen, die sie vor einem tieferen Sturz bewahrte. Nora Mettlers ehemalige Beiständin unterstützte sie privat lange über den 18. Geburtstag hinaus. Zudem fand sie bei der ehemaligen Pflegemutter ihrer Schwester ein gutes Zuhause. Bei Gael Plo war es unter anderen ein ehemaliger Sozialarbeiter, der ihm von seinem Privatkonto Geld vorschoss, um die dringendsten Rechnungen zu begleichen. Beide beteiligen sich zudem am Aufbau der Care-Leaver-Netzwerke, wo sie auch selber Unterstützung finden.