Idomeni – wo Europa Geflüchtete alleine lässt

«Food, please, give us food», rufen Menschen auf Englisch aus der Menge. Dutzende Männer, Frauen und Kinder drängen sich vor einem Container. Doch Christos Goudinakos hat alle Essensrationen verteilt, die Wärmebehälter sind leer. Hinter ihm erstreckt sich eines der grössten Flüchtlingslager, das auf europäischem Boden je entstanden ist. «Wir haben nichts mehr, kommt morgen wieder», ruft er der Menge entgegen. Zuerst schloss Österreich seine Grenzen für Flüchtende, dann Serbien und Ende Februar schliesslich Mazedonien. Jetzt sitzen in unmittelbarer Nähe zum stacheldrahtbewehrten Grenzzaun 14 000 Menschen in Griechenland fest, genau zählen kann sie niemand mehr. Alleine zwischen Ende Februar und Mitte März hat sich ihre Zahl verdreifacht.

 

Wer das Camp zum ersten Mal betritt, dem stockt der Atem. Nicht nur wegen des beissenden Rauchs der vielen kleinen Feuer, in denen die Bewohner Abfall und nasses Holz verbrennen, um sich zu wärmen. Hunderte von Campingzelten, in denen oft ganze Familien leben, versinken im Schlamm. Hustende Kinder waten in Stoffschuhen durch Wasserlachen. Am Strassenrand bricht ein Mann erschöpft zusammen, freiwillige Helfer tragen ihn eilends ins überfüllte Krankenzelt, zwei Männer mit amputierten Beinen kämpfen sich in Rollstühlen über den Feldweg. Zwischen den Zelten spielen und lachen Kinder: Es scheint, als würden sich die sich die Schwächsten der Situation am leichtesten anpassen. Im Lager fehlt es an ausreichender medizinischer Versorgung, an Kleidern und trockenen Zelten. Wer sich hier auf die Suche nach einem Vertreter des griechischen Staates oder der Europäischen Union macht, der sucht vergebens: Die Behörden überlassen die Versorgung gänzlich den Hilfswerken und Freiwilligen. Einzig in Form der Bereitschaftspolizei markiert der Staat Präsenz, sie bewacht die Bahngeleise nach Mazedonien und wartet in ihren blauen Bussen darauf, dass etwas geschieht. Über der Szenerie schwebt im Tiefflug eine Drohne.

 

Das Gefühl, etwas tun zu müssen

 

Vor dem Container von Christos Goudinakos hat sich die Menschenmenge aufgelöst. Der Grieche sitzt im Innern auf einer Holzpalette. Jetzt habe er Zeit, um ein paar Fragen zu beantworten, sagt er. Doch schon klingelt sein Handy: dringender Anruf eines Hilfswerks. Goudinakos telefoniert mit leiser Stimme, immer wieder kommen andere Helfer in den Container, wollen wissen, wo die restlichen Früchte gelagert sind, wann sie die Kleider aus dem Lieferwagen holen sollen, wer den Transport für den morgigen Tag organisiert. Goudinakos steckt das Telefon wieder in die Jackentasche, steht auf und geht mit raschen Schritten zu einem anderen Container mit Essensvorräten hinüber, wo er kontrolliert, wieviel wovon da ist. Dazwischen beantwortet er den Helfern weitere Fragen, schickt zwei von ihnen zum Kleiderlager, zündet sich eine Zigarette an und drückt sie nach ein paar Zügen wieder aus. Wie an einem Pulsmesser lässt sich an Goudinakos die Unruhe ablesen, die das gesamte Camp im Griff hat.

 

Pausenlos bewegen sich Menschen über die Feldwege, via Lautsprecher rufen die Hilfswerke Namen auf, Sirenen von Ambulanzfahrzeugen erschallen, vereinzelt ertönt Geschrei, und immer wieder kommt es zu spontanen Kundgebungen am Grenzzaun. Der Grafikdesigner Goudinakos gehört zum Verein Oikopolis, der vor drei Jahren aus einer Umweltbewegung entstanden ist und sich seither für Flüchtende engagiert. Vor einem Jahr setzte Goudinakos sich zum ersten Mal ins Auto und fuhr eine Stunde von Thessaloniki ins Landesinnere nach Idomeni. Damals waren die beiden Personendurchgänge im Grenzzaun noch geöffnet, die Menschen blieben für ein paar Stunden oder eine Nacht, bevor sie die Grenze nach Mazedonien passierten. «Die Flüchtenden zu sehen, machte mich betroffen und ich hatte das Gefühl, etwas tun zu müssen.» Damals, sagt er, sei die Situation noch einfacher gewesen. «Doch inzwischen ist es für uns Freiwillige unmöglich, alle hier zu versorgen. Wir können unterstützend tätig sein, aber nicht die Hauptverantwortung übernehmen.» Täglich kochen und verteilen die griechischen Helfer von Oikopolis 4000 warme Mahlzeiten in Idomeni, so viele wie niemand sonst vor Ort und dennoch viel zu wenige, wie Goudinakos sagt. Zudem versorgen sie die Menschen mit den Dingen, an denen es am meisten fehlt. «Zurzeit sind das vor allem trockene Zelte und Holzpaletten, damit sie nicht mehr im Schlamm schlafen müssen.»

 

Wut über Europas Untätigkeit

 

Nebst Oikopolis gibt es Dutzende weitere private Gruppen, die in Idomeni Hilfe leisten. Darunter spontan agierende Zusammenschlüsse, von Studenten bis zu professionell arbeitenden Klein-Hilfswerken. Die Helfer kommen nebst Griechenland aus Deutschland, der Schweiz, aus Holland, Österreich oder Skandinavien. Für einige Tagen oder Wochen bleiben sie vor Ort, verteilen auf eigene Faust Kleider und Essen oder unterstützen die grossen Nichtregierungsorganisationen, die in weissen Containern ihre Büros eingerichtet haben. Vor Ort sind unter anderem der UNHCR, das Internationale Rote Kreuz und Médecins Sans Frontières (MSF).

 

Letztere haben faktisch die Leitung des Camps übernommen: Nebst der medizinischen Hilfe baut die Organisation Grosszelte für Hunderte von Menschen, verteilt Lebensmittel und kümmert sich um die sanitären Anlagen. Der Holländer Jan van’t Land ist bei MSF verantwortlich für Nordgriechenland. Zuletzt arbeitete er in Flüchtlingslagern in Somalia und Nord-Nigeria, jetzt braucht es ihn mitten in Europa. Wer mit ihm spricht, trifft auf jene Art ungläubige Empörung, welche die Menschen hier vereint. «Diese Leute sind auf der Flucht vor einem Krieg. Sie dabei allein zu lassen ist unakzeptabel und eine Schande. Das ist Europa, Griechenland liegt in Europa. Das ist nicht irgendein schwarzer Fleck am Ende der Welt.» Dafür, dass die Behörden völlig abwesend sind, gebe es eine einfache Antwort, sagt van’t Land. «Niemand will, dass hier ein Camp ist, und ich bin völlig einverstanden: Hier ist ein schlechter Ort für ein Camp. Aber es gibt hier mehr als 10 000 Leute, faktisch ist es also ein Camp. Nichts zu tun ist von einem humanitären und medizinischen Standpunkt aus gesehen nicht akzeptabel.»

 

Das Geschäft mit den Flüchtenden

 

Das Lager bei Idomeni erstreckt sich über eine Fläche, die fast so gross ist wie 30 Fussballplätze. Die Zelte stehen auf den Feldern, entlang der Bahnstrecke, im Wald und auf dem Perron des Dorfbahnhofs. Vor einem Zelt sitzt ein Mann mit seinen Kindern und spielt auf seiner arabischen Laute ein Lied. Zeltnachbarn helfen sich gegenseitig aus mit dem wenigen, was sie haben. Auf ein kurzes Gespräch folgt rasch eine Einladung ins Zelt zu einem Kaffee. In der Nähe verkaufen junge Syrer laut rufend Zigaretten, neben den wenigen Steckdosen an den Containern warten Männer mit Rasiergeräten und Spiegeln auf Kundschaft und versuchen so, etwas zu verdienen. Im und ums Lager hat sich eine MiniIndustrie entwickelt.

 

Auch Griechen wittern in der neu entstandenen Zeltstadt ein Geschäft. Ein Bauer aus der Gegend kauft in der Stadt Telefonkarten fürs Handy und verkauft sie hier mit Gewinn weiter. Den Lagerraum am Bahnhof haben drei Männer aus der Gegend zu einem Laden umgewandelt, in dem sie Gaskocher, Gummistiefel, Zelte und Taschenlampen verkaufen. Einige Meter weiter befindet sich das Bahnhofsbuffet, das bis vor einem Jahr geschlossen war. Jetzt sind alle Tische besetzt, vor der Theke warten die Leute in langer Schlange. Wer es sich leisten kann, verpflegt sich hier mit Sandwiches, Pommes oder kleinen Hackbällchen. Etwas erhöht hinter dem Bahnhof, im einzigen Dorfladen Idomenis, macht Ayesia Sidiropoulou das Geschäft ihres Lebens.

 

Eine Gruppe Frauen mit Kopftüchern steht im engen Raum vor dem Getränkeregal. «Früher warteten wir manchmal Stunden auf einen Kunden. Jetzt werden wir überrannt», sagt Sidiropoulou mit rauer Stimme. Sie müsse fast jeden Abend in die Stadt fahren, um ihr Lager aufzufüllen. Frisches Brot, Joghurt und Milch sind bis mittags bereits wieder ausverkauft. Für mehr Vorräte sei jedoch ihr Lager zu klein, sagt sie. Während Sidiropoulou erzählt, betritt ein Mann aus dem Camp den Laden. Die Haut des Syrers ist hell, die Augen blau. Er trägt einen grünen Regenschutz wie jene, die von den Hilfswerken im Lager verteilt werden und die hier fast alle tragen. Er komme nicht wegen Essen, sagt er. «Ich brauche Zigaretten für meinen Kopf, um zu vergessen, was uns hier geschieht.» Seit drei Wochen lebe er nun mit seiner Frau und der kleinen Tochter bereits im Camp. «Ich bin so müde. Wir warten und warten, aber worauf?» Dann wendet er sich der Verkäuferin zu und bestellt fünf Packungen Marlboro. «Du solltest aufhören zu rauchen», sagt sie ihm freundlich lachend. «Von dem Geld solltest du lieber Essen kaufen.» «Ja», antwortet er. «Wenn ich in Europa bin, dann höre ich auf zu rauchen. Dann fange ich zu trinken an.» Als er den Laden verlassen hat, erzählt die Inhaberin von ihrer Überforderung. Manchmal sei sie traurig und wütend zugleich. «Alle in Europa weinen um diese armen Leute, aber niemand tut etwas. Wenn Merkel die Flüchtlinge noch möchte, dann soll sie Züge schicken und sie holen kommen!»
Demonstrationen gegen die Hilflosigkeit

 

Im Lager ist es Abend geworden. Auf dem Bahnübergang haben sich mehr als 100 Menschen versammelt, während der Regen auf sie niederfällt. «Germany, Germany!», skandieren sie. Und: «Merkel, Merkel!», «Open the border!» Männer und Frauen klatschen, pfeifen, strecken ihre Kinder oder beschriftete Kartons in die Höhe, die Auslöser der umstehenden Fotografen klicken, Filmteams halten ihre Kameras auf die Gruppe, die Polizisten aus den Mannschaftsbussen verstärken ihre Kollegen auf dem Zuggleis. Nach einer Weile löst sich die Menschenmenge auf. Jeden Tag gibt es solche Kundgebungen, Zeichen der verzweifelten Hoffnung auf eine Öffnung der Grenzen.

 

Inzwischen ist Christos Goudinakos mit seinen Kollegen beim Aufräumen. Er entsorgt Essensabfälle, reinigt die Schneidebretter. Dann will er nochmals die Lagerbestände kontrollieren und verschwindet. Zehn Minuten später kommt er zurück, alles da für den nächsten Tag. Er schliesst den Container ab, öffnet seinen Regenschirm und macht sich gemeinsam mit einem weiteren Helfer auf den Weg zum Auto, über die Feldwege, vorbei an den Zelten und Feuern. «Am Ende des Tages haben wir immer das Gefühl, dass wir nicht genügend tun konnten», sagt er mit brüchiger Stimme. «Jeden Abend gehen wir nach Hause, sicher, trocken, und sie lassen wir hier.» Neben ihm geht Markus, ein pensionierter Flugbegleiter. Auch seine Grosseltern seien Flüchtlinge gewesen, sagt er, und aus Asien nach Griechenland gekommen. Flucht sei Teil seiner Vergangenheit, deshalb fühle er sich verpflichtet zu helfen. Schliesslich, sagt er, sei es mit dem Krieg immer dieselbe Geschichte: «Einer baut grossen Mist und viele andere bezahlen dafür.»