Kaum Hoffnung auf Freiheit

Einfach hatte es Florian Hauser nie. Von der Mutter verstossen, aus der Maurerlehre geflogen, Alkohol, Medikamentensucht, Obdachlosigkeit. Nach dem 20. Geburtstag verliert er zunehmend die Kontrolle über sich. Orientierungslos treibt er durch die Ostschweiz, sein Strafregister füllt sich. Diebstahl eines Portemonnaies, eingeschlagene Autoscheiben, Hausfriedensbruch, Drohungen. Immer wieder verurteilen ihn die Behörden zu kurzen Gefängnisstrafen. Zurück in der Freiheit dauert es nie lange bis zur nächsten Verhaftung. Hauser, der in Wirklichkeit anders heisst, wird zu einem Störenfried, stadtbekannt. Im Herbst 2015 entwendet er in Winterthur unter Einfluss von Alkohol und Medikamenten einen Lieferwagen und prallt einige hundert Meter weiter in ein parkiertes Fahrzeug. Die Polizei bringt ihn ins Untersuchungsgefängnis, das Gericht verurteilt ihn zu fünfzehn Monaten Gefängnis.

Seither sind mehr als drei Jahre vergangen, seine Strafdauer hat Hauser längst verbüsst. Und doch lebt er noch immer hinter Gittern. Die Behörden betrachten ihn als Gefahr für die Gesellschaft. Möglich macht das Artikel 59 des Strafgesetzbuches. Wer als «psychisch schwer gestört» gilt, den können die Behörden für unbestimmte Zeit wegsperren. Ursprünglich für schwere Straftaten gedacht, wird diese stationäre Massnahme seit einigen Jahren immer mehr ausgeweitet: auf Kleinkriminelle, Randständige und Störenfriede. Der grösste Teil der Insassen hat keinen Berufsabschluss, ist arbeitslos und jünger als dreissig Jahre. Wer einmal in einer stationären Massnahme landet, findet oft erst nach vielen Jahren wieder einen Weg hinaus.

Es war im vergangenen Sommer, als mich die Menschenrechtsorganisation Humanrights.ch kontaktierte. Sie berichtete von drei Personen, die sich in einer stationären Massnahme befinden. Allesamt junge Männer, Florian Hauser war einer von ihnen. Per Post und über die Anstaltszentralen nahm ich Kontakt auf. In den folgenden Wochen klingelte abends regelmässig mein Telefon. Am anderen Ende der Leitung erzählten die Männer von ihren Geschichten, repressiven Haftregimen und ihrer Wut auf ein übermächtiges System. Schritt für Schritt tauchte ich ein in eine mir unbekannte Schweizer Realität, wo Gutachter Kleinkriminelle zu Psychopathen machen und der Staat die Menschen auf unbestimmte Zeit in Zwangstherapien sperrt.

In Artikel 59 des Strafgesetzbuches heisst es: Ist ein Täter psychisch schwer gestört, kann das Gericht eine stationäre Behandlung anordnen – vorausgesetzt, das Verbrechen steht im Zusammenhang mit seiner Erkrankung und eine stationäre Therapie kann das Risiko für weitere Straftaten verringern. Eine Massnahme beträgt «in der Regel höchstens fünf Jahre». Doch nur ein kleiner Teil kommt nach fünf Jahren wieder in Freiheit, denn die Behörden können die Massnahme ohne Obergrenze verlängern. Es gibt Fälle, in denen Straftäter erst nach über zwanzig Jahren wieder aus einer Massnahme entlassen werden. Kein Zweitgutachten bei kleiner Verwahrung

Der Gesetzesartikel 59 wurde 2007 eingeführt. Seither ist die Zahl der Urteile nach oben geschnellt: von 84 auf zuletzt 151 Verurteilungen pro Jahr. Gemäss der Konferenz der Kantonalen Justizund Polizeidirektorinnen und -direktoren (KKJPD) befanden sich im Jahr 2016 rund 1000 Personen in einer Behandlungsmassnahme. Als Folge des steilen Anstiegs mangelt es schweizweit an Plätzen. Anfang 2017 warteten gemäss einer Erhebung der KKJPD mindestens 300 weitere Personen in sogenannter Organisationshaft auf einen freien Therapieplatz.

Florian Hauser ist im Kanton St. Gallen untergebracht, im Massnahmenzentrum Bitzi. Das ist eine von drei Anstalten in der Schweiz, die ausschliesslich auf stationäre Massnahmen spezialisiert sind. Die meisten Betroffenen befinden sich in geschlossenen Spezialabteilungen innerhalb von gewöhnlichen Strafanstalten. Zwangsmedikationen und Isolationshaft gehören in vielen Anstalten zu den gängigen Mitteln, wenn Insassen nicht ausreichend kooperieren.

Das Bitzi liegt umgeben von Wald und Wiesen mitten in einer Landwirtschaftszone. Viele hier verbringen die Massnahme im offenen Vollzug. Die Männer – Frauen gibt es keine – arbeiten tagsüber in einem der zugehörigen Betriebe. Auf dem Bauernhof oder in der Schlosserei, wo sie auch eine Berufslehre machen können. Wer sich an die Regeln hält, darf manchmal übers Wochenende Freunde oder Verwandte besuchen. Weil Hauser von einem solchen Kurzurlaub zwei Mal nicht freiwillig zurückkehrte, befindet er sich, nach einem Zwischenhalt im Flughafengefängnis Zürich, seit Anfang Jahr wieder in der geschlossenen Abteilung.

Voraussetzung für die stationäre Massnahme war im Fall von Florian Hauser – wie bei allen anderen Betroffenen – ein psychiatrisches Gutachten. Dieses hatte die Staatsanwaltschaft nach seiner Verhaftung in Auftrag gegeben. Der Gutachter diagnostiziert darin eine «dissoziale Persönlichkeitsstörung» und eine «Suchtmittelabhängigkeit». Er zeichnet das Bild eines stark gestörten Mannes, von dem eine Gefahr für die Gesellschaft ausgeht.

Hauser hatte für die Diagnose der Persönlichkeitsstörung von sechs Kriterien gerade einmal drei erfüllt – die Mindestanzahl. Ein standardisiertes Computerprogramm errechnete zudem die Erfolgsaussichten einer Therapie. Das Resultat: nicht vorhanden bis sehr gering. Doch davon liess sich der Gutachter nicht beirren. Für ihn war der Fall klar: «Zur Reduktion dieser hohen Rückfallgefahr kann gutachterlicherseits nur die Möglichkeit einer längerfristigen und eng strukturierten stationären Massnahme unter dem Dach des Art. 59 StGB gesehen werden.» Seither bestimmt dieser Satz das Leben von Florian Hauser. Ein Zweitgutachten ist für die kleine Verwahrungnicht vorgesehen. Angeklagte können selber eines in Auftrag geben, was aber mehrere 1000 Franken kostet. Die wenigsten können sich das leisten.Jedes Vertrauen verloren 

Im Massnahmenzentrum Bitzi öffnen Sicherheitsmitarbeiter die Schleuse zum Besucherraum, wenig später tritt durch eine zweite Tür Florian Hauser ein. Ein etwas untersetzter junger Mann mit dunklem Kinnbart und müdem Blick. Er schliesst das vergitterte Fenster, dann setzt er sich an den langen Besuchertisch. «Unschuldig bin ich nicht», sagt Hauser gleich zu Beginn. Er erzählt von seiner Mutter, die ihn nicht haben wollte und an die Grossmutter weitergab. Von den vielen unbeantworteten Briefen an seinen Vater, den er bis heute nicht kennengelernt hat. Von der Scham über die abgebrochene Lehre, der Wut über sein eigenes Scheitern und von den Diebstählen, mit denen er seine Alkoholsucht finanzierte. «Ich bin ein friedlicher Mensch», sagt Hauser. «Ich hatte einfach den Alkohol nicht im Griff. Damit versuchte ich alles zu verdrängen.»

Der Alltag im Vollzugszentrum ist streng geregelt. Tagwacht 07.15 Uhr, eine Stunde später beginnt die Arbeit: Kondome verpacken, Handtücher verpacken, Schrauben auf Gewinde schrauben. Die Mittagspause dauert eine Stunde, dann Einschluss ins Zimmer für eine halbe Stunde. Abendessen um 17.05 Uhr, Medikamente einnehmen, um 20.45 Uhr Einschluss bis zum nächsten Morgen. Fünf Mal die Woche darf Hauser eine halbe Stunde im Hof drehen. Will er Besuch empfangen, muss er eine Woche im Voraus ein schriftliches Gesuch einreichen. Seit Hauser in der geschlossenen Abteilung sitzt, verweigert er die wöchentliche Therapie. «Wenn der Psychiater kommt, sage ich Hallo und Tschüss. Sonst kein Wort.» Er sagt, er habe jegliches Vertrauen verloren. Die Behörden, die Forensiker, die Betreuer, alle ziehen am selben Strick, sagt Hauser. «Die machen mit mir, was sie wollen. Ich bin total machtlos.»

Die wenigsten, die sich in einer stationären Massnahme befinden, sind durch einen Anwalt vertreten. Die Pflichtverteidiger legen ihr Mandat in der Regel nach dem Urteil nieder, so war es auch bei Hauser. Doch im vergangenen Jahr machte er sich auf die Suche nach Hilfe. Er schrieb verschiedene Menschenrechtsorganisationen an, unter anderem auch Humanrights.ch, die ihm einen neuen Anwalt zur Seite stellte. Dieser hat seither in mehreren Anträgen eine Entlassung von Hauser aus der Massnahme beantragt. Als Grund nennt er an erster Stelle die fehlende Verhältnismässigkeit, angesichts der Gefängnisstrafe von rund einem Jahr. Und zweitens, dass Hauser eine Therapie vehement ablehnt. Denn gemäss Gesetz muss eine Massnahme beendet werden, wenn sie keine Aussicht auf Verbesserung mehr verspricht. Als aussichtslos gilt eine Massnahme auch dann, wenn keine Therapie möglich ist. Manche sind schlicht nicht in der Lage dazu. Andere verweigern aus Kalkül, weil sie sich davon eine frühere Entlassung erhoffen. In den meisten Fällen dauert es einige Zeit, bis sich die Insassen auf eine Therapie einlassen. Wie lange ein Zuwarten legitim ist, darüber wird gestritten. Strafrechtler sagen, höchstens einige Monate. In der Praxis ist es oftmals deutlich länger.Behörden finden, die Gefahr sei zu gross 

Im Fall von Florian Hauser lehnten die Behörden bisher alle Anträge auf Aufhebung der Massnahme ab. Dabei verwiesen sie immer wieder auf die «schweren psychischen Beeinträchtigungen», die der Gutachter vor fünf Jahren diagnostiziert hatte. Sowie auf die beiden Kurzurlaube, von denen Hauser nicht zurückkehrte und bei denen er jeweils in stark alkoholisiertem Zustand bei der Polizei landete.

Florian Hauser ist kein Einzelfall. Im Rahmen dieser Recherche sprach ich auch mit Martin Brunner, der mit richtigem Namen ebenfalls anders heisst. Der 24-Jährige wurde vor vier Jahren zu fünfzehn Monaten Gefängnis und einer stationären Massnahme verurteilt. Unter anderem wegen Gewalt und Drohung gegen Beamte, Fahren ohne gültigen Fahrausweis, Konsum von Ecstasy und wiederholtem Vergehen gegen das Waffengesetz – er besass ohne Bewilligung ein Luftdruckgewehr. Als die Beamten das Gewehr beschlagnahmen wollten, holte er eine Handgranatenattrappe hervor und zog vor den Augen der Polizisten den Sicherungssplint. Brunner war zu jener Zeit bekennender Neonazi, davon distanziert er sich heute. Auf seinen Armen zeugen jedoch immer noch zahlreiche Tätowierungen von seiner damaligen Gesinnung.

Brunner verweigerte die Therapie von Anfang an. Als Folge davon verschoben ihn die Behörden während vier Jahren quer durch die Schweiz, von einer Anstalt zur nächsten. Zuletzt verbrachte er ein halbes Jahr in einer gewöhnlichen Strafanstalt, da die Behörden für ihn keinen Platz im Massnahmenvollzug fanden. Er hat mehrere Suizidversuche hinter sich, verletzt sich selber und leidet unter Panikattacken. Auch in seinem Fall lehnten die Behörden bisher alle Anträge seiner Anwältin um Entlassung ab. Mit der Begründung, es bestehe «offensichtlich das ernsthafte Risiko schwerwiegender Delinquenz», bis hin zu «einer Tötungsgefahr». Die andauernde Therapieverweigerung bezeichnet die Justizbehörde als «Ausdruck seines diagnostizierten Störungsbildes», eine positive Entwicklung brauche «sehr viel Geduld». Kurzum: Die Gefahr, die von dem 24-Jährigen ausgehe, sei zu gross.

«Es will niemand verantwortlich gemacht werden, wenn es einmal zu einem Rückfall kommt. Das ist das Hauptproblem», sagt Konrad Jeker. Er ist Rechtsanwalt in Solothurn und vertritt seit Jahren Menschen in stationären Massnahmen. Er beobachtet, wie das Sicherheitsbedürfnis in der Gesellschaft zunimmt – eine Entwicklung, die auch Umfragen bestätigen. «Strafrecht wird zunehmend als Produzent von Sicherheit verstanden», schreibt der Strafrechtsprofessor Alexander Niggli in einem Aufsatz. Kommt es zu einem Verbrechen, stellt sich in der Öffentlichkeit sofort die Frage nach den Schuldigen. Die Luzerner Kantonsrichterin Marianne Heer sagte vor einigen Jahren gegenüber der Zeitschrift Beobachter: «Wenn Sie einen Täter freilassen oder eine Verwahrung aufheben, riskieren Sie Ihre Karriere. Wenn er rückfällig wird, können Sie Ihren Namen danach in grossen Lettern in der Zeitung lesen und müssen um Ihre Wiederwahl bangen.» Sie berichtet von Richterkollegen, die offen sagen, sie wollten Risiken, die mit dem Rückfall eines Täters verbunden sind, nicht auf sich nehmen. Aus Angst, damit ihre Karriere aufs Spiel zu setzen.Sicherheit vor Freiheit? 

Laut Rechtsanwalt Jeker landen als Folge davon viele Menschen in einer Massnahme, die dort nicht hingehören. «Es sitzen unzählige Menschen in solchen Anstalten, die keine schwere psychische Störung im Sinne des Gesetzes haben.» Die psychiatrischen Gutachten seien in vielen Fällen ungenügend und erfüllten die medizinischen Kriterien nicht. Dazu Jeker: «Die Verantwortlichkeiten zwischen Richtern und Gutachtern sind so aufgeteilt, dass sich niemand verantwortlich fühlen muss. Und am Ende glauben die Beteiligten noch, sie würden dem Menschen mit einer Massnahme etwas Gutes tun.» Die Kritik an der Anwendung von Artikel 59 kommt nicht nur von Rechtsanwälten. 2016 publizierte die Universität Bern eine Studie zur kleinen Verwahrung. Darin kritisiert Studienleiter Jonas Weber: Unter der Sicherheitsorientierung der Behörden leiden die Grundrechte der Insassen. Bei manchen, die sich seit zehn oder mehr Jahren in einer Massnahme befinden, werde eine Entlassung gar nicht mehr geprüft (siehe Interview Seite 13).

Das übersteigerte Bedürfnis nach Sicherheit und harten Strafen wird angeheizt von rechts-konservativen Politikerinnen und Politikern, die wiederkehrend eine Verschärfung des Strafrechts fordern und mit Kampfbegriffen wie «Kuscheljustiz» auf Wählerfang gehen. Ob DNA-Fichen, Sozialdetektive oder Verwahrung – immer mehr gilt: Sicherheit vor Freiheit. Schützenhilfe erhält die Politik von Boulevardmedien, denen kein Verbrechen zu schrecklich ist, um es nicht für Klickzahlen auszuschlachten. Jüngstes Beispiel: Die Tötung eines Buben in Basel, der auf dem Schulweg von einer älteren Frau erstochen wurde. «Wo waren die Verantwortlichen?», titelte daraufhin der Blick und: «Warum lief die Killerin frei herum?» Der gesellschaftliche Druck auf Staatsanwältinnen, Richter und Behörden nimmt zu. Zu spüren bekommen das letztlich die Angeklagten. Junge Männer wie Martin Wenger oder Florian Hauser. Mit dem eigenen Leben überfordert, psychisch angeschlagen, ausgeliefert. Sie sind die Bauernopfer einer Gesellschaft, die nach mehr Sicherheit verlangt und dafür immer tiefere Einschnitte in die Grundrechte in Kauf nimmt. Solange es nur die andern trifft.

Hauser hat wenig Hoffnung auf baldige Freiheit, doch er betet jeden Abend dafür. Es gibt einen Onkel, sagt er. Bei dem könnte er nach seiner Entlassung sofort eine Arbeit bekommen, auch eine Wohnung stehe für ihn bereit. In einer neuen Stadt, mehrere Stunden von seinem alten Leben entfernt. Er wäre bereit, alle Auflagen einzuhalten. Auch in eine regelmässige Alkoholkontrolle würde er einwilligen. «Ich bin bereit für ein deliktfreies Leben ohne Alkohol. Alles, was ich brauche, ist ein guter Start in der Freiheit.» Doch die Behörden sehen das anders. Hauser bleibt unter Verschluss. Für wie viele Jahre noch – er weiss es nicht.