Mut zum Widerstand

Tschetschenien: Der Name ist uns seltsam vertraut, evoziert Bilder von Krieg, Zerstörung, von einem Mann vielleicht mit sibirischem Tiger, Bart und goldener Pistole. Doch was ist Tschetschenien überhaupt: ein Land oder eine Region? Wer führte dort Krieg und wie zeigt sich das Leben in Tschetschenien heute?

 

Der Film «Grozny Blues» des Basler Filmemachers Nicola Bellucci führt in die Hauptstadt der autonomen russischen Republik, einfache Antworten liefert er keine. Dafür nimmt er das Publikum mit auf eine traumähnliche Reise, bringt die Schrecken der Vergangenheit an die Oberfläche, rückt die Zeichen von Hoffnung in den Mittelpunkt und erzählt so das vielstimmige Porträt einer versehrten Grossstadt. «Ich habe vieles bewusst in der Schwebe gelassen», sagt Bellucci beim Gespräch in einem Kleinbasler Café. «Damit sich der Zuschauer in diesen Zustand der Ungewissheit versetzen kann, wie ich ihn während der Dreharbeiten erlebt habe.»

 

Bellucci machte sich vor fünf Jahren zum ersten Mal auf nach Grozny. Möglichst unauffällig reiste er in einem Kleinbus über die Grenze, fuhr durch die Hauptstadt, vorbei an übrig gebliebenen Kriegsruinen und Hochhäusern im Rohbau, und traf auf eine verunsicherte Gesellschaft, in der kaum jemand ein Gespräch vor der Kamera führen wollte.

 

«Mein erster Eindruck war: Hier einen Film drehen, das wird schwierig. Herausgekommen ist schliesslich etwas ganz anderes, als ich geplant hatte», sagt Bellucci.

 

Während mehr als zwei Jahrzehnten versank die Region im Nordkaukasus im Krieg. 1994 erklärte die vormalige Sowjetrepublik ihre Unabhängigkeit von Russland, das daraufhin seine Truppen nach Tschetschenien schickte. Fortan bekämpften sich mehrheitlich islamistische Separatisten und die russische Armee während fast 15 Jahren mit grosser Brutalität. Bis sich die russische Armee 2009 aus Tschetschenien zurückzog und die Macht an den Putin-getreuen Präsidenten Ramsan Kadyrow übergab. Dieser regiert die autonome Republik seither mit den Mitteln eines Despoten, seine Anhänger zelebrieren um ihn einen Führerkult, während seine Gegner um ihr Leben fürchten.

 

Im Mittelpunkt von «Grozny Blues» stehen drei Frauen, die den Krieg und die bis heute andauernde Unterdrückung seit Beginn dokumentiert haben. Die Wut, die Tränen und das Lachen der Frauen vermischen sich mit vielen weiteren Stimmen zu einem Gesang voller Trostlosigkeit und Hoffnung zugleich: mit einer jungen Sängerin, mit dem Besitzer eines Jazzclubs, der sich in eine andere Stadt wünscht. Mit den singenden Kindern, mit Männern, die archaische Tänze aufführen, mit heulenden Motorrädern, geflüsterten Koransuren und dem Knallen des Feuerwerks zum Tag der Verfassung.

 

Dahinter zieht die irreal anmutende Kulisse von Grozny vorüber: Von Plakatwänden wünscht das strahlende Staatsoberhaupt Ramsan Kadyrow eine gute Fahrt, in Tarnanzügen patrouillieren Militärs, und die prunkvollen Hochhäuser im Stadtzentrum stehen wie Fremdkörper in der Landschaft, daneben strahlt mitten in der grauen Betonmonotonie die golden leuchtende Moschee.

 

«Der Film ist auch eine Parabel», sagt Bellucci. «Dafür, wie Menschen in Scheindemokratien leben, die eigentlich Diktaturen sind.»

 

Der Film solle letztlich eine Ermutigung zum Widerstand sein. Deshalb habe er sich bewusst nicht auf die Kritik an der Regierung konzentriert, sondern sich auf die Suche gemacht nach jenen Menschen, die sich widersetzen und mutig für eine freiere und offenere Gesellschaft einstehen.

 

Ganz am Ende des Films bricht ein Feuer aus, der «Olympus» steht in Flammen: das höchste Hochhaus der Stadt und Symbol der Macht von Kadyrow. Zum ersten Mal füllen sich die sonst meist leeren Strassen und Plätze mit Menschen, einige Zuschauer weinen, andere beten, und ein junger Mann auf der Strasse stimmt an zum Schlussgesang: «Wisst ihr, seit wie vielen Jahren Grozny brennt? Seit 1994. Grozny hört nicht auf zu brennen. Eine lebendige Stadt, so lebendig wie die Leute hier. Irgendwie schaffen wir es zu überleben.»