Schutzlos

Basler Tageshaus für Obdachlose. An einem Tisch sitzt Hans M.* Glatt rasiert, fein umrahmte Brille, obdachlos. Seit vergangenem September schläft er unter freiem Himmel, in einem ruhigen Quartier am Rande der Stadt. Wenn er sich am Morgen aus seinem Schlafsack geschält hat, legt er sich als Erstes wieder auf den Boden. «Den Tag beginne ich mit 20 Liegestützen», sagt Hans M. Als Mittel gegen die beissende Kälte und weil Disziplin braucht, wer auf der Strasse bestehen will. Um neun Uhr geht er in eine geheizte Kirche im Stadtzentrum. Dort sitzt er dann, wärmt sich auf, denkt nach. Manchmal übt ein Orgelspieler. Diese Stunde sei für ihn besonders wertvoll. Sie gebe ihm Ruhe und Kraft, sagt Hans M. «Rückzug finden, das ist etwas vom Schwierigsten, wenn du draussen lebst.»

 

Offizielle Zahlen zu Obdachlosigkeit gibt es in der Schweiz keine. Anders in Deutschland. Dort lebten im Jahr 2016 gemäss einer Schätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe BAGW etwa 52 000 Menschen auf der Strasse, 2008 waren es noch 20 000 gewesen. Auch in den Schweizer Städten häufen sich die Anzeichen dafür, dass immer mehr Menschen draussen schlafen. Anlaufstellen in Zürich und Lausanne berichten von steigender Nachfrage, auch der Basler Verein für Gassenarbeit zählt immer mehr Menschen ohne feste Wohnadresse. Allein in Lausanne schlafen jede Nacht 50 bis 100 Menschen auf den Strassen – Tendenz zunehmend. «Die Zahl der Obdachlosen in der Schweiz steigt», schrieb Nau.ch im Dezember; «Mehr Obdachlose in Bern», titelte die Berner Zeitung; «Immer mehr Menschen in der Schweiz leben ohne ein Dach über dem Kopf», vermeldete SRF Online. Ihren Höhepunkt erreichte die mediale Aufmerksamkeit, als vier Tage vor Weihnachten in Basel ein Obdachloser auf einer Parkbank erstochen wurde.

 

Georges wurde dort getötet, wo er lebte

 

Georges – die regionalen und nationalen Zeitungen nannten den Getöteten beim Vornamen – wurde innert weniger Tage zu einem Symbol für die prekäre Lage all jener, die unter freiem Himmel schlafen. Er lebte seit einigen Jahren neben einer Freizeitanlage im Kleinbasel. Am Ufer des Rheins, in der Nachbarschaft eine Sekundarschule, ein Jugendtreff, ein Basketballfeld. Ein belebter Ort, der sich in der Nacht zum Drogenumschlagplatz wandelt. Georges ist diese Nachbarschaft möglicherweise zum Verhängnis geworden. Die Polizei nahm wenige Tage nach seinem Tod einen mutmasslichen Drogendealer fest, der für die Tat verantwortlich sein soll.

 

Angriffe auf Obdachlose sind in der Schweiz bisher selten, Zahlen dazu gibt es keine. Auch hier wird in Deutschland genauer hingeschaut: Laut der BAGW verloren seit 1989 über 500 obdachlose Frauen und Männer durch Gewalt ihr Leben. Allein 2016 seien 17 Todesopfer zu beklagen gewesen. Mehr als 140 Obdachlose wurden bei Angriffen verletzt. Oftmals handle es sich dabei um Konflikte zwischen Wohnungslosen, die Konkurrenz habe stark zugenommen, schreibt die BAGW. Häufig gebe es aber auch einen rechtsextremistischen Hintergrund. Von derartigen Zuständen ist die Schweiz weit entfernt. Doch hier wie in Deutschland gilt: Wer auf der Strasse schläft, ist verletzbar.

 

Hans M. hat aus der Zeitung von der Tat im Kleinbasel erfahren. Selber habe er das Opfer nicht gekannt. «Die Tat machte mir deutlich, wie prekär meine eigene Lage ist. Wenn ich schlafe, habe ich keine Chance, mich zu wehren.» Hans M. wohnt nun seit fünf Monaten auf der Strasse. Er lebte davor in der Innerschweiz, verdiente sein Geld mit Gelegenheitsjobs im Gastgewerbe und als Handwerker. Im vergangenen Sommer musste er das Haus verlassen, in dem er während vielen Jahren gelebt hatte. Er verlor den Boden unter den Füssen, reiste in den Jura, wo er in einem abgelegenen Hotel ein Zimmer mietete. Als er Ende September nur noch 140 Franken übrig hatte, machte er sich zu Fuss auf den Weg nach Basel. Entkräftet und mit Blasen an den Füssen erreichte er fünf Tage später jene Stadt, in der er sich schon bei früheren Besuchen zuhause gefühlt hatte. Davon erzählt Hans M. mit klarer Stimme und Schweisstropfen auf der Stirn, das Gespräch kostet ihn Überwindung. «Ich habe Angst vor der Nähe zu anderen Menschen», sagt er. Auch deshalb war die Basler Notschlafstelle für ihn nie eine Option. Stattdessen zog er auf der Suche nach einem ruhigen und sicheren Schlafplatz durch die Aussenquartiere der Stadt. Gefunden hat er ihn am Stadtrand zwischen historischen Häusern und einem kleinen Park.

 

Hans M. ist kein Einzelfall. Ein grosser Teil der Obdachlosen lebt abseits der Zentren. In den Aussenquartieren, in Parks oder an Waldrändern. Wo sie möglichst niemand sieht, wo sie Ruhe finden und etwas Schutz. So auch Markus F.* Der Surprise-Verkäufer schlägt als Treffpunkt die Zentralbibliothek in Zürich vor. Ein Mann über 50, Jeans, Windjacke, aufrechter Gang, vom Wetter gegerbte Haut. Auch auf den zweiten Blick lässt nichts erahnen, dass er seit 15 Jahren draussen lebt.

 

Als obdachlos möchte sich Markus F. nicht bezeichnen. Er hat sich einen Schlafplatz eingerichtet, wo er auch bei Wind und Regen geschützt ist. Er lebe an der Grenze zwischen «Natur und Kultur», sagt er. In einem Aussenquartier in der Nähe des Waldes, wo ihn manchmal ein Fuchs besuchen komme. Wo genau er schläft, möchte er nicht sagen. Wie die meisten «rough sleepers», wie sie im Englischen genannt werden, hütet er seinen Schlafplatz wie ein Geheimnis. Um unerwünschte Besucher fernzuhalten und weil sichere Schlafplätze eine umkämpfte Seltenheit sind. Mit der zunehmenden Zahl von Obdachlosen steigt auch die Konkurrenz.

 

Die grösste Gefahr lauert im Strassenverkehr

 

Markus F. hat immer genau geschaut, wo er schläft. Im Stadtzentrum habe er kaum je übernachtet. «Dort weisst du nie, auf wen du triffst. Ich würde mich da nicht sicher fühlen.» Die eigene Verletzbarkeit bleibt auch so ein präsentes Thema für ihn. Selber sei er noch nie ausgeraubt oder angegriffen worden, er wisse aber von Freunden, denen das bereits passiert sei. Die grösste Gefahr in seiner Sicht ist jedoch der Verkehr. Das Risiko, im Stadtverkehr von einem Auto angefahren zu werden, sei grösser als das, ausgeraubt zu werden. Wer draussen schlafe, sei oft entkräftet, trage Gepäck mit sich rum, sei viel unterwegs, sagt Markus F. Wer bestehen möchte, müsse robust sein. Sich bewegen, am besten auf Tabak und Alkohol verzichten. Man brauche einen Ausgleich, eine Leidenschaft, die man ausleben könne. Für Markus F. sind es die Bücher und die Sprache. Er verbringt viel Zeit in der Bibliothek, schreibt selber Texte. Vielleicht das Wichtigste zum Überleben: Man müsse sich abgrenzen können. «Ich kann niemandem helfen, wenn es mir selber nicht gut geht.»

 

Disziplin, Struktur, Abstinenz: Wer sich auf die Suche macht nach Obdachlosen, trifft in der Regel nicht auf schwache Personen. Was Markus F. und Hans M. exemplarisch aufzeigen, bestätigt Christian Fischer, Leiter der Stelle Sicherheit Intervention Prävention (sip) in Zürich. «Obdachlose werden oft als bedürftig und hilflos beschrieben. Ich habe von vielen aber den Eindruck, dass sie ziemlich fit sind. Das sind nicht nur arme, wehrlose Wesen. Die können sich wehren und müssen das auch. Sonst können sie dieses Leben gar nicht führen.» Fischer und sein Team sind viel draussen unterwegs und stehen regelmässig im Austausch mit Betroffenen. Wenn es zu Diebstählen komme, so seine Beobachtung, dann würden diese häufig durch andere Obdachlose begangen. Ob die Zahl der Delikte zugenommen hat, dazu kann Fischer keine genauen Angaben machen. Er habe jedoch nicht den Eindruck, sagt er. Ähnlich klingt es bei der Stadtpolizei Zürich und der Kantonspolizei Basel-Stadt. Doch offizielle Statistiken dazu, wie oft Obdachlose Opfer von Verbrechen werden, gibt es keine.

 

Schlaflose Nächte nach dem Angriff

 

Das Gefühl, wenn man an seinem Schlafplatz angegriffen wird: Roger Meier kennt es. Der Surprise-Stadtführer aus Bern hat während 25 Jahren auf der Strasse gelebt. Dabei erfüllte auch er auf Anhieb keines der Klischees, wie sie Obdachlosen gemeinhin zugeschrieben werden. Er war in der Regel rasiert, duschte jeden Morgen, war sauber gekleidet. Auf einem Velo mit Anhänger transportierte er sein Hab und Gut durch die Stadt. Kleider, Bücher, iPad, Bettgestell mit Matratze, chemische Toilette. Er schlief manchmal in der Stadt, meistens aber in den Aussenquartieren oder im Wald. «Egal wo, du schläfst nur mit einem Auge. Die eine Hirnhälfte ist fast immer auf Alarm», sagt er.

 

In einer Nacht jedoch, Roger Meier hatte etwas zu viel getrunken, war seine innere Alarmanlage ausgeschaltet. Er übernachtete ausnahmsweise in einem kleinen Park im Stadtzentrum. Als er erwachte, war er umringt von einer Gruppe junger Männer. Einer drückte ihm ein Messer an den Hals, ein anderer hielt ihm die Nase zu. Sie nahmen sein Tablet mit, sein Handy und etwas Geld. Zurück blieb Roger Meier und der Schock, den er bis heute nicht überwunden hat. «Es ist, als würde jemand in deine innerste Privatsphäre eindringen.» Ein paar Tage später kaufte er sich ein Licht mit einem Bewegungsmelder und ein Messer mit einer langen Klinge, das er jede Nacht unter sein Kopfkissen legte. Doch die schlaflosen Nächte blieben. Vor zwei Monaten bezog Roger Meier nach vielen Jahren nun wieder eine kleine Wohnung. Die Ruhe, sagt er, tue ihm gut.