Bei aller Liebe zu ihrem Dozenten, so pünktlich waren Ueli Mäders Studierende in den vergangenen zehn Jahren nie. Eine gute Viertelstunde vor Beginn seiner letzten Vorlesung – die an seinem 65. Geburtstag stattfindet – gibt es in der Aula der Universität Basel kaum einen freien Stuhl mehr. Neben dem Eingang drängen sich die überzähligen Zuhörer entlang der Wand, während Mäder den Gang auf und ab eilt und die Stehenden auf einzelne leer gebliebene Plätze hinweist.
Gegen 400 Menschen sind gekommen, diesem Mann zuzuhören, der sich wie kaum ein anderer in den vergangenen Jahren mit gesellschaftlicher Macht und Ungleichheit in der Schweiz beschäftigt hat. Und dabei aus seiner eigenen politischen Haltung nie einen Hehl machte. Nach einer kurzen Ansprache von Rektorin Andrea Schenker-Wicki tritt Mäder hinter das Rednerpult und setzt zu seiner finalen Vorlesung an: «Die Soziologie des Alltags».
Am Anfang noch etwas befangen und mit trockenem Mund, zieht er bald das Publikum in seinen Bann. Dieses gleicht einem Querschnitt durch jene gesellschaftlichen Sphären, denen sich Mäder die letzten zwanzig Jahre gewidmet hat. Wirtschaftsführer Rolf Soiron ist gekommen, Michael Wiesner, der Kommunikationschef der Economiesuisse, Armutsbetroffene, Nationalräte, Mitarbeiter, viele aktuelle und ehemalige Studierende.
Ein Aushängeschild
Noch einmal schlägt er den ganz grossen Bogen: vom FC Basel über Peter Bichsel, Alex Capus, Franz Kafka und Max Weber weiter zu Karl Marx. Er spricht über die Wut als Kraft, über wachsende Ungleichheit, die Konzentration des Reichtums, die Grenzen des Nützlichkeitsdenkens und die Macht des Kapitalismus. Eine Prognose für die Gesellschaft, sagt Mäder ganz zum Schluss, wolle er keine wagen – und tut es dann doch.
«Die soziale Brisanz wird sich verschärfen. Doch nicht unbedingt bis auf alle Ewigkeit.»
Er setze seine Hoffnung auf die nachfolgende Generation, sagt Mäder und blickt dabei auf die rund um das Rednerpult am Boden sitzenden Studierenden. Dann ist es vorbei, langer Applaus. Und während sich die Gäste in den Garten begeben, wo ein Apéro wartet und Musik spielt, verabschiedet sich Mäder in der Aula händeschüttelnd vom Reinigungspersonal. Mäder, wie er immer wieder beschrieben wird: bescheiden, zugänglich und mit grossem Interesse für seine Mitmenschen.
Die Universität verliere mit Mäder ein Aushängeschild, hatte die Rektorin in ihrer Ansprache gesagt. Doch was verliert die Uni in den Augen der Studierenden? Einen sehr engagierten Soziologen, sagt ein junger Student im Garten. Einen Professor, der Soziologie als politischen Auftrag verstehe, sagt eine Studentin. Den besten Chef, der kein Chef sein möchte, sagt eine langjährige Mitarbeiterin. Einen Vater, eine Studentin. Ein Aushängeschild. Ein Vorbild.
Und was sagt Ueli Mäder selbst? Es ist keine Frage, die dem Bescheidenen behagt: «Es geht gut weiter, auch ohne mich. Und ich bin sehr zuversichtlich, was meine Nachfolge betrifft», sagt er etwas ausweichend. «Wenn ich fort bin, gibt es eine ganze Liste von Mitarbeitenden, die viel Wichtiges zu sagen haben.»Noch bis Ende Juli wird Mäder an der Universität präsent sein, Prüfungen abnehmen. Was danach kommt ist offen. Sämtliche Anfragen für Vorsitze habe er erst einmal abgelehnt, ab August sei seine Agenda leer. Er wolle sich zuerst einmal frei machen, damit etwas Neues entstehen könne, sagt Mäder. «Das Loslassen fällt mir leichter, als ich gedacht habe.»