Der Schlaue Bauer

Der Schlaue Bauer Die Zeit, 11.12.2015

Als sich der erste Schnee über das Seeland zwischen Biel und Bern legte, war Bauer Stefan Brunner am Ende seiner Kräfte. Trotz welker Blätter und Lausbefall schickte er den Kohl in den Verkauf. Die Erntemaschinen, die er zum Schutz vor dem Frost hätte einwintern sollen, ließ er auf dem schneebedeckten Feld stehen. Seit er 2010 den elterlichen Eichhof gemeinsam mit seiner Frau von den Eltern übernommen hatte, stellte er diesen total um: Bio- statt konventioneller Anbau, Gemüse statt Milch – und jedes Jahr verdoppelte sich die Anzahl seiner Angestellten.

Und auch wenn es ihm niemand ansah: Stefan Brunner stand am Rand der Verzweiflung: „Mir ist alles über den Kopf gewachsen.“

Das war vor einem Jahr.

Heute sitzt Brunner auf der verwitterten Holzbank vor dem Bauernhaus in der Herbstsonne. Die kräftige Statur und der zielgerichtete Blick lassen ihn älter erscheinen als die kaum dreißig Jahre, die er zählt. Seine drei Söhne springen schreiend über den Vorplatz. Dahinter erstrecken sich die Gemüsefelder in Richtung Aarberg. Knapp zwanzig Hektaren, für Schweizer Verhältnisse ein kleiner Betrieb.

Stefan Brunner ist ein Bauer von vielen. Und doch ein ganz anderer. Als am vergangenen Freitag 10 000 zornige Landwirte vor dem Bundeshaus gegen die geplanten Subventionskürzungen demonstrierten, hütete er zu Hause die Kinder. „Freunde, wollt ihr Butter oder Blümchen?“, fragten die Demonstranten auf ihren Transparenten. Für Brunner ist die Antwort klar. Er will den bunten Blumenstrauß.

Ende der achtziger Jahre löste die Agrarreform in der Schweiz einen Liberalisierungsprozess aus, der noch immer im Gange ist. Die Lebensmittelpreise fallen, die internationale Konkurrenz nimmt zu, und der Bundesrat verhandelt mit der EU über eine weitere Marktöffnung für landwirtschaftliche Produkte.

Am stärksten unter Druck ist der traditionelle Bauernhof: ein Gemischtwarenladen aus Milchkühen, etwas Ackerbau oder Schweinemast. Das zeigen die aktuellen Zahlen. 2015 erwirtschaften die Schweizer Bauern nach Schätzungen des Bundes 600 Millionen Franken oder elf Prozent weniger als noch im Jahr zuvor. Besonders betroffen sind die Preise für Milch, Schweinefleisch und Zuckerrüben. Wegen Überproduktionen, der Aufhebung des Euro-Mindestkurses und dem damit verbundenen Exportrückgang sowie der Aufhebung der Milchquoten in der EU.

Sein Erfolgsrezept: Keine Kühe, keine Schweine, keine Zuckerrüben

Mit dem vierjährigen Sohn auf den Schultern schreitet Stefan Brunner durch ein Gemüsefeld, das nur wenige Hundert Meter hinter dem Bauernhaus liegt. Vorbei an langen Reihen mit buschigem Federkohl, einer von dreißig Kulturen, mit denen Brunner und seine Frau ihr Geld verdienen. Sie verkaufen auch Karotten, Leinsamen, Heidelbeeren, Wallwurz, Kürbisse und pflanzten in diesem Jahr als einer der ersten Schweizer Höfe Quinoa an.

Das Gewöhnliche, sagt Brunner, überlasse er gern anderen. Sich aus der Masse abheben. Das ist einer der Gründe, warum Brunner und seine Familie kaum vom aktuellen Preiszerfall betroffen sind. „Ich habe keine Kühe, keine Schweine, keine Zuckerrüben.“ Weil er Bio produziert, eine vielfältige Fruchtfolge betreibt und farbig blühende Pflanzen anbaut, profitiert er zusätzlich vom komplizierten Direktzahlungssystem des Bundes. „Ich versuche, die Freiheiten zu nutzen, die sich durch die Agrarpolitik ergeben“, sagt er.

Trotzdem stürzte er in eine Krise. Überwunden hat er sie mit der Unterstützung seiner Frau – zusammen suchten sie extern nach Hilfe. Erschuf er Ordnung, wo Chaos war, und stoppte den eigenen Tatendrang. Heute lädt er statt vierzig- nur noch viermal jährlich zum „Puurezmorge“, Hofkonzert oder Erntefest. Die Abläufe im Betrieb sind besser strukturiert, und für die Büroarbeit hat er seine Schwester angestellt. Die Freude ist zurück, und er hat den Kopf frei für neue Ideen.

Nebst dem Gemüseanbau haben sich die Brunners ein zweites Standbein aufgebaut. Eines, das mit Landwirtschaft im klassischen Sinne nicht viel zu tun hat: Stefan Brunner beteiligt sich am Projekt Alp. Auf dem Hof leben auch eine Pflegetochter und ein Jugendlicher, der sich in einer schwierigen Lebenssituation befindet. Für den 30-Jährigen ist das weit mehr als nur ein Geschäft. Im Sommer, wenn geerntet wird, sitzen über vierzig Personen um den großen Esstisch in der Scheune: Die Gastarbeiter aus Osteuropa, Praktikanten, Landdienstleistende, Lehrlinge – und Stefan Brunner mit seiner Frau und den vier Kindern.

Dass man als Landwirt neue Betriebszweige entwickelt und keine Angst vor Unbekanntem hat, ist für Brunner selbstverständlich. „Manche sagen, ich sei innovativ“, sagt er: „Neues auszuprobieren gehört für mich zum Bauersein dazu.“

Im Stall, wo früher die Kühe standen, hat er eine Werkstatt eingerichtet. Seine jüngste Erfindung: eine Unkrautmaschine. Ein Gefährt aus Rollstuhlrädern, Motorradsitz und Stahlverstrebungen, mit dem seine Angestellten bequem liegend und effizient das Unkraut aus den biologischen Feldern zupfen können. „Jät-Ferrari“, nennt er die Roller, von denen er bereits mehrere an andere Bauern verkauft hat.

Auf dem Eichhof sind Sechzig-Stunden-Wochen die Regel. Die letzten Ferien liegen über ein Jahr zurück. Und wie die meisten jungen Bauern steht auch Brunner vor einem Berg von Schulden für Hof, Land und Maschinen, die er über Jahre bei einer kantonalen Stiftung für Agrarkredite abbezahlen muss.

Aber Brunner möchte nichts anders. Das naturnahe Leben, den Alltag mit seiner Familie zu verbringen, und die Freiheiten bedeuten ihm viel. „Es klingt vielleicht etwas romantisch“, sagt er, „aber ein Korn säen, zusehen, wie es wächst, und es dann ernten, das gefällt mir.“

Landwirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann hätte seine helle Freude am Jungbauern aus Aarberg. Er predigt bei seinen Auftritten seit Jahren, was er sich von den Landwirten erhofft: Innovation, Offenheit und den Blick auf den Markt.

Kurzum: Ein Bauer soll wie ein Unternehmer denken. Das hören die Bauern auch an den Landwirtschaftsschulen oder von Betriebsberatern und vom Bauernverband.

Mehr Unternehmertum, diese Losung ist derzeit der kleinste gemeinsame Nenner in einer Branche, in der kaum Einigkeit herrscht. Man streitet sich ebenso über die Agrarpolitik des Bundes wie auch über die Frage, ob die Bauern ihre Betriebe vergrößern, diversifizieren oder doch lieber verkaufen sollen.

Den Wandel zum Unternehmer schaffen aber nicht alle Landwirte allein. Unterstützung finden sie zum Beispiel bei Nicole Amrein. Sie ist Mitte dreissig, Bäuerin und bewirtschaftet mit ihrem Mann im Luzerner Hinterland einen kleinen Betrieb. Daneben arbeitet sie im Aargau am landwirtschaftlichen Zentrum Liebegg als Beraterin. Sie unterstützt Bauern bei der Hofübergabe, entwickelt mit ihnen neue Betriebskonzepte – und hilft in Krisenlagen. Sie berichtet von gestandenen Männern, die vor ihr in Tränen ausbrechen. Sie sind vom eigenen Betrieb überfordert, die Ehe geht in die Brüche, oder sie wissen nicht, womit sie ihre aufgelaufenen Rechnungen bezahlen sollen. „Die Fälle von Überlastung nehmen deutlich zu“, sagt Amrein. Und zieht von dieser Entwicklung eine direkte Verbindung zum Markt und den fallenden Lebensmittelpreisen.

Deshalb will sie am landwirtschaftlichen Zentrum ein neues Coaching-Angebot aufbauen. Dabei soll es in den Gesprächen für einmal nicht um Milchpreise, Märkte und Mehrwertsteuern gehen. „Im Vordergrund steht der Mensch. Was macht mich glücklich, welche Arbeit mache ich gern? Weshalb will ich Bauer sein und – will ich überhaupt?“ Für Amrein ist das die Schlüsselfrage. Sie erlebt junge Landwirte, die den Hof aus Pflichtgefühl gegenüber den Eltern oder mangels Alternativen übernommen haben. Eine Zukunft sieht sie aber nur für jene, die sich aus Überzeugung für die Landwirtschaft entscheiden: „In jedem anderen Beruf verdient ein Arbeiter mehr Lohn bei weniger Verantwortung und mehr Freizeit. Bauer ist ein Beruf für jene, die es wirklich wollen.“ Wer das realisiere und seine Stärken kenne, dem falle die Neuausrichtung leichter. „Wir können nicht einfach mehr arbeiten als unsere Eltern“, sagt Amrein. „Es gibt neue Möglichkeiten, um als Bauer sein Geld zu verdienen.“

Dazu gehört der Wechsel von der Milchwirtschaft auf Mutterkuhhaltung, die Direktvermarktung, der Anbau von seltenen Gemüsesorten oder die sogenannte Paralandwirtschaft: Also Ferienlager organisieren, Strom produzieren oder schwierige Jugendliche auf dem Hof betreuen. „Doch damit können nicht alle gleich gut umgehen“, sagt Amrein. „Unternehmerisch denken, Risiken eingehen, das liegt nicht jedem.“
„Manche sagen, ich sei innovativ“

Auf dem Eichhof ist es später Nachmittag geworden. Das Handy in Brunners Jackentasche spielt einen Ländler. „Ja, hallo?“ Im Halbstundentakt wird er gerufen, dieses Mal ist es der Jugendliche vom Projekt Alp, der wissen möchte, wohin mit den gerüsteten Karotten.

Brunner geht zurück zum Wohnhaus, entlang von langen Reihen Schwarzkohl, vorbei an ein paar Hühnern und Schafen, die an die Zeit erinnern, als hier das Geld noch mit Tieren verdient wurde. Auf dem Hofplatz fährt ein Traktor vor. Es ist Hans Brunner, der Vater von Stefan.

Der ehemalige Hofbesitzer ist heute Angestellter seines Sohnes und arbeitet die halbe Woche mit. Auch Großvater Brunner hilft noch mit. Nein, sagt Hans, das wäre nichts für ihn gewesen, einen Betrieb mit so vielen Mitarbeitern zu führen. „So wie Stefan das macht, ist es gut für ihn. Und ich bin stolz, dass er den Hof erfolgreich führt und davon leben kann.“ Er selber habe den Betrieb in den 1980er Jahren unter ganz anderen Vorzeichen übernommen. „Damals wusste ich, wenn ich weitermache wie mein eigener Vater, kommt es gut. Das ist heute für die jungen Bauern nicht mehr so.“

Wegen des tiefen Milchpreises hatte Hans Brunner die Viehwirtschaft bereits vor fünfzehn Jahren eingestellt und nur noch Ackerbau betrieben. Seine Frau gab ihre Arbeit auf dem Hof teilweise auf und arbeitete als Lehrerin. So kam die Familie auf ein anständiges Einkommen.

Heute sagt Stefan Brunner: „Dass sich der Vater damals gegen einen Ausbau des Milchstalls entschieden hat, war mein Glück.“ So hatte er den nötigen Spielraum, um sich von der Milchwirtschaft zu lösen und den Hof neu auszurichten. Es war ein Entscheid, der sich auch finanziell auszahlt. Wenn er seine Abschlüsse anschaue, führe er einen erfolgreichen Betrieb. Zurzeit macht er eine halbe Million Franken Umsatz, knapp ein Zehntel davon sind Direktzahlungen des Bundes. Was nach Abzug von Löhnen, Rückzahlungen und Energiekosten am Ende des Jahres übrig bleibt, investiert er in den Ausbau des Hofes, in neue Maschinen und Fahrzeuge. Und irgendwann einmal, so hofft Brunner, auch in zusätzlichen Boden.

Die Felder rund um Aarberg sind umkämpftes Land. Wie alle Ackerböden im Seeland, ja in der ganzen Schweiz. Während die Höfe weniger werden, buhlen die verbleibenden Landwirte um die frei werdenden Flächen. Mehr Land, so rechnen viele, führt zu einer höheren Auslastung der Maschinen, zu höherer Effizienz und am Ende zu einem besseren Ertrag.

Brunner weiß von Höfen in der Umgebung, bei denen die Nachfolge noch nicht geregelt ist. Dort gäbe es etwas zu holen. „Dabei muss man äußerst vorsichtig vorgehen. Wer zu früh Interesse signalisiert, gilt rasch als gierig. Wartet man zu lange, schnappt einem ein anderer das Land vor der Nase weg.“

Aus der Größe allein macht er sich wenig. „Mehr Land ermöglicht mir mehr Freiheiten, um Neues auszuprobieren und den Hof weiterzuentwickeln. Für mich zählt am Ende die Vielfalt, nicht die Fläche.“ Vielleicht bleibe dann am Ende des Jahres sogar etwas mehr für die Familie. Denn bei aller Liebe zum Beruf: Einmal im Jahr in die Ferien fahren, das wäre schön.